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"Gott im Internet - Religion in der modernen Welt" | |
Vortrag von Jörg Herrmann |
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Um diesen impliziten Gemeinsamkeiten besser auf die Spur zu kommen, ist es hilfreich, über den Begriff der Religion nachzudenken.
Dieser Begriff hat eine lange und wechselvolle Geschichte. Er ist so strittig, daß es Wissenschaftler gibt, die es für sinnlos halten, einen allgemeinen Begriff der Religion zu beschreiben. Ich glaube jedoch, daß so ein Begriff dabei helfen kann, Zusammenhänge zu entdecken. Wenn man also versucht, den Begriff der Religion näher zu bestimmen, stößt man zunächst auf die Alternative zwischen substanziellen und funktionalen Religionsdefinitionen. Substanzielle Defintionen versuchen, das Wesen von Religion zu beschreiben: Was ist Religion? Funktionale Definitionen versuchen zu sagen, was die Religion leistet: Wofür ist Religion gut? Die funktionalen Definitionen sind in der Regel weiter und werden vor allem von Religionssoziologen diskutiert und angewandt. Um den Horizont bei dem Versuch, Schnittstellen zwischen Kulturformen zu beschreiben, so offen zu halten wie möglich, scheint es mir sinnvoll, von einer funktionalen Bestimmung des Religionsbegriffs auszugehen.
Die funktionalen Bestimmungen, wie sie zum Beispiel von dem deutschen Religionssoziologen Thomas Luckmann und dem amerikanischen Kulturwissenschaftler Clifford Geertz ausgearbeitet wurden, konvergieren in der Annahme, daß es bei der Religion im Kern um Sinnvermittlung geht. Die Religion gibt symbolische Antworten auf Sinnfragen, insbesondere auf Sinnfragen angesichts radikaler Kontingenz. Solche Kontingenzerfahrungen wie plötzlicher Tod oder unverdientes Leiden sind gewissermaßen der Ernstfall der Sinnvermittlungsproblematik. Hier, wo die anderen kulturellen Orientierungssysteme mit ihrem Latein am Ende sind, ist die Religion gefragt. Der Theologe Wilhelm Gräb hat, religionssoziologische Perspektiven aufnehmend, Religion bezeichnet "als die Kultur der Symbolisierung letztinstanzlicher Sinnhorizonte alltagsweltlicher Lebensorientierung". Von den Sinncodierungsleistungen anderer Kulturformen unterscheidet sich die Religion durch ihre Konzentration auf die sogenannten letzten Fragen und durch die Art ihrer Antworten. Letztere ist formal charakterisiert durch eine bestimmte Tradition und eine bestimmte Sprache und - bezogen auf das Christentum - inhaltlich durch die Bezugnahme auf einen transzendenten Sinngrund. Im Christentum antwortet das Symbol der Schöpfung auf die Frage nach dem Ursprung der Welt, während das Symbol der Erlösung der Erfahrung des Leidens und der Negativität komplementär ist. Subjekt von Schöpfung und Erlösung ist jeweils Gott.
Was hat das nun mit dem Internet zu tun?
Diesem Thema kommen wir auf die Spur, wenn wir versuchen herauszufinden, welche mehr oder weniger offensichtlichen Antworten das Internet auf die Fragen nach Sinn und Erlösung, nach Herkunft und Zukunft des Menschen nahelegt. Ich will dieser Frage anhand einer Liste von elementaren Begriffen nachgehen, die geeignet sind, den kommunikativen Raum, den Sinnkosmos also, den das Internet erzeugt und den man auch Cyberspace nennt, zu charakterisieren. Die Begriffe sind Raum, Zeit, Identität, Interaktivität und Hypertextualität.
Tagung "Gott im Internet", 7.-9. November 1997, Evangelische Akademie Nordelbien/Bad Segeberg, unterstⁿtzt durch die Technologiestiftung Schleswig-Holstein. Dokumentation. Copyright beim Autor! Mailto:Jörg Herrmann |