"Gott im Internet - Religion in der modernen Welt"

Vortrag von Jörg Herrmann

(3)

1. Raum

Der Raum des Internet ist ein virtueller Raum. Er ist nicht wirklich vorhanden. Jedenfalls nicht im Sinne unserer Alltagswirklichkeit. Der virtuelle Raum ist ein Möglichkeitsraum. Er ist elektronisch konstruiert, ständig veränderbar und grenzenlos. Er ist nicht lokalisierbar: ein Utopos. Man kann diesen Raum nicht verorten. Es gibt in ihm keine Körper, sondern allenfalls elektronische Repräsentanten von Körpern. Endlich, so beschwört es die von amerikanischen Netz-Propheten vor einigen Jahren formulierte "Magna Charta für das Zeitalter des Wissens", gewinnen "die Kräfte des Geistes die Oberhand über die rohe Macht der Dinge". "Unsere Welt", so heißt es in einer anderen Deklaration, der "Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace" von Perry Barlow,
"ist überall und nirgends; und sie ist nicht dort, wo Körper leben. (...) Es gibt im Cyberspace keine Materie". Diese Tatsache werten die Cyberspace-Propheten als Befreiung. Die entkörperte Welt des Cyberspace erscheint als Ausweg aus der Vergänglichkeit und Endlichkeit des Physischen, aus der Materialität und dem Schmerz des Körpers. Aber auch aus den Machstrukturen des real life. Bei Barlow heißt es weiter: "Regierungen der industriellen Welt, ihr matten Giganten aus Fleisch und Stahl: Ich komme aus Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Im Namen der Zukunft sage ich euch: Laßt uns allein. Ihr seid bei uns nicht willkommen. Ihr habt keine Hoheitsrechte, wo wir zusammenkommen."

Der Reiz des virtuellen Raumes ist, daß er mehr zu bieten hat als ein bloß imaginärer Raum. Er hat eine spezifische Realität. Er ist interaktiv und sozial strukturiert. Neue Sozialformen entstehen. Eine neue Betonung des Geistigen greift dabei um sich, die an gnostische Erlösungsvorstellungen erinnert: Der Körper gilt als Kerker, aus dem die Seele befreit werden muß. Die Probleme des Dualismus von Fleisch und Geist kehren damit auf neue Weise zurück. Und die Sehnsucht nach Erlösung von der Endlichkeit und dem Schmerz der Körpers erhält neue Nahrung. Ebenso wie der Wunsch nach Befreiung von Gewalt und Unterdrückung. Der Cyberspace verspricht konkrete Erfüllung dieser Sehnsüchte: Erlösung durch Kommunikationstechnologie.


<- vorige Seite   nächste Seite ->
Tagung "Gott im Internet", 7.-9. November 1997, Evangelische Akademie Nordelbien/Bad Segeberg, unterstⁿtzt durch die Technologiestiftung Schleswig-Holstein. Dokumentation. Copyright beim Autor! Mailto:Jörg Herrmann