"Gott im Internet - Religion in der modernen Welt"

Vortrag von Jörg Herrmann

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4. Interaktivität

Eines der wichtigsten Merkmale des Internet im Unterschied zu den klassischen Massenmedien ist seine Interaktivität. Und zwar nicht nur bidirektional wie beim Telefon. Der Cyberspace ist ja ein Raum, in den viele zu gleicher Zeit eintreten können, sei er nun textbasiert oder graphisch entwickelt. Der Cyberspace ermöglicht Sozialität. Das hat sich schon früh abgezeichnet. So entstand zum Beispiel schon zu Zeiten des legendären C64 vor über 10 Jahren das Habitat-Netz, ein sozialer Raum mit Kirche, Sheriff, Zeitung und Rechtsanwälten.

Wie verändert sich die Kommunikation unter den Bedingungen der Virtualität? Das kann recht weit gehen. Gegenwärtig wird daran gearbeitet, nicht nur das Hören und Sehen, sondern auch das Fühlen im Cyberspace zu ermöglichen. Es geht dabei darum, das Erotische aus der Präsenz der Körper zu lösen - ohne Verlust an Intensität. Das Ziel ist, so der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme, auf dieser bakterienverseuchten Erde "mit jeder anderen Peron der Welt, unter welchen virtuellen Maskierungen auch immer, in lustvolle sinnliche Berührungen treten (zu) können".

Davon sind wir noch ein wenig entfernt. Aber ein anderer Aspekt virtueller Kommunikation ist schon sehr real: die eigensinnige Gleichzeitigkeit von Anonymität und telepräsenter Gegenwart der Kommunikationspartner. Die Anonymität des Distanzmediums Schrift und die Präsenz der face-to-face-Kommunikation mischen sich. Ich weiß nicht, wer wirklich hinter einer Netz-Person steckt, so wie ich oft die Autorin oder den Autor eines Textes nicht persönlich kenne.
Auf der anderen Seite kann ich in eine Echtzeit-Kommunikation mit meinem Netz-Partner eintreten. Diese Kombination aus Nähe und Distanz ermöglicht eine große Offenheit. Schnell kommt es zum Austausch von Intimitäten und Innerlichkeit. Man könnte auch sagen: Das Netz befördert eine intensive Kommunikation der Seelen. Die Kommunikation im Cyberspace hat also eine gewissermaßen pietistische Komponente, ohne per se religiös zu sein.

Natürlich ist darüberhinaus auch die religiöse Kommunikation im engeren Sinne in diesen Prozeß der Virtualisierung einbezogen. Für die westeuropäischen Kirchen ist das sicher mit einigen Problemen verbunden. Denn sie haben, anders als die amerikanischen Kirchen, fast exklusiv auf die körperliche Realpräsenz ihrer Gläubigen gesetzt. Radio- und Fernsehgottesdienste wurden von Anfang an als unzureichender Ersatz realpräsentischer Gemeinschaft beargwöhnt. Ein wichtiges Argument war dabei immer die Individuierung vor dem Medium. Die Fernsehgemeinde sei keine richtige Gemeinde. Ihre fehle die Realpräsenz der Kommunikationspartner. Dieses Argument gerät im Blick auf die neuen Technologien zumindest ins Wanken. Denn Telepräsenz hat ja Züge von Realpräsenz, und in einem virtuellen Gottesdienst ist mehr möglich als bei einem Fernsehgottesdienst. Aber diese Fragen will ich nur streifen, denn sie gehören eigentlich zur Frage nach der faktischen Präsenz von Religionen und Kirchen im Netz, zu der Thematik also, auf die ich nicht weiter eingehen wollte.

Im Blick auf funktionale Äquivalenzen des Netzes zur Religion ist unter dem Stichwort Interaktivität auch der Aspekt des Wissens von Interesse. Wer sich ins Netz einloggt, begibt sich ein eine kommunikative Umgebung, an der an die 50 Millionen User partizipieren, darunter unzählige Institutionen und Experten. Da kommt einiges zusammen. Das Internet ist eine enorme Wissensresource. Das gesamte Wissen und die gesamte Intelligenz der Menschheit akkumulieren in diesem neuen Medium. Darum liegt der Gedanke nicht fern, daß die Partizipation am Internet fast so etwas ist wie die Teilnahme an der Allwissenheit Gottes. Vor diesem Hintergrund könnte man auch sagen: Das Internet ist die technische Form Gottes. Es ist im Begriff, Eigenschaften zu entwickeln, die man gemeinhin nur Gott zuschrieb: Allwissenheit, Allmacht, Unendlichkeit, Ewigkeit und Ubiquität. Allerdings fördert das Nachdenken über diesen Vergleich zwischen Gott und dem Internet auch allerlei Differenzen zu Tage. Einige werden angesichts der Hypertextualität des Netzes deutlich.


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Tagung "Gott im Internet", 7.-9. November 1997, Evangelische Akademie Nordelbien/Bad Segeberg, unterstⁿtzt durch die Technologiestiftung Schleswig-Holstein. Dokumentation. Copyright beim Autor! Mailto:Jörg Herrmann