"Gott im Internet - Religion in der modernen Welt"

Vortrag von Jörg Herrmann

(10/Schluß)

2. Wie kann die religiöse Tradition Theorie und Praxis des Internet bereichern?

Hinsichtlich der Theorie sehe ich einen internetkritischen Beitrag der christlichen Religion in ihrer Betonung von Körper, Endlichkeit und Leiden. Es geht hier, glaube ich, um eine ähnliche Debatte wie in der Antike zur Zeit der Auseinandersetzung des Christentums mit dem Gnostizismus. Auch die Debatte des Paulus mit den Charismatikern in Korinth gehört in diesen Zusammenhang. Sowohl die korinthischen Charismatiker als auch die Gnostiker zeichneten sich durch eine Abwertung der alltäglichen Welt des Körpers aus. Stattdessen propagierten sie Ekstase und Erkenntnis als Befreiung aus dem Kerker des Fleisches und seiner Probleme.

Die Internet-Euphoriker denken, wie wir gesehen haben, ähnlich. Sie preisen die Immaterialität des Cyberspace als neue Freiheit. Dabei drohen die leiblichen Wurzeln der medientechnologischen Expansion des Geistes aus dem Blick zu geraten. Alle im Cyberspace agierenden Subjekte verdanken ihre Existenz schließlich nach wie vor ihren Körpern. Ohne Körper läuft nichts. Seine Geschichte und damit auch seine Leidensgeschichte in Raum und Zeit ist immer noch die Grundlage menschlicher Existenz. Darum ist die Kategorie des körperlichen Schmerzes die Basiskategorie einer humanen Anthropologie. Diese Sichtweise steht auch im Zentrum der christlichen Tradition. Sie ist aufgehoben in der Erzählung von Passion und Auferstehung und verwurzelt im Körperdenken der jüdischen Tradition.

So könnte man sagen: die körperorientierte memoria passionis der jüdisch-christlichen Tradition erinnert an die leibliche Fundierung auch der Cyberspace-Welt. Sie macht auf das illusionäre Potential der Erlösungsphantasien der Netz-Propheten aufmerksam und macht deutlich, daß eine humane Theorie und Praxis des Internet besonderes Gewicht auf die Frage nach den Schnittstellen und Wechselwirkungen zwischen real life und virtuell reality legen sollte.

Was die Praxis angeht, so sehe ich einen weiteren kritisch-bereichernden Beitrag der christlichen Religion in der Ermöglichung und Kultivierung von primärer Erfahrung. Ich denke dabei an die Möglichkeit personaler Kommunikation in Kirchengemeinden und die damit verbundene Erfahrung von Lokalität und Sinnlichkeit. Ich denke an die in Meditation und Gottesdienst mögliche Erfahrung von größerer Unmittelbarkeit. Ich möchte die mediale Internet-Erfahrung und die primäre face-to-face Kommunikation in einer religiösen Gemeinschaft dabei nicht gegeneinander ausspielen. Ich glaube vielmehr, daß sie einander bedürfen. Die spezifische Intensität und Nähe von Lokalität und Körperlichkeit ist nicht ersetzbar. Sie bildet den Kontext, in dem die Cyberspace-Erfahrung allererst angemessen eingeordnet werden kann.


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Tagung "Gott im Internet", 7.-9. November 1997, Evangelische Akademie Nordelbien/Bad Segeberg, unterstⁿtzt durch die Technologiestiftung Schleswig-Holstein. Dokumentation. Copyright beim Autor! Mailto:Jörg Herrmann