"Gott im Internet - Religion in der modernen Welt"

Vortrag von Jörg Herrmann

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1. Wie kann die Internet-Erfahrung die Theorie und die Praxis der Religion bereichern?

Dazu fallen mir drei Punkte ein. Zunächst zur Theorie der Religion.
Die neuen Kommunikationstechnologien haben auf die Bedeutung der Konstruktion bei der Entstehung von Weltsichten aufmerksam gemacht. Diese auch vom sogenannten Konstruktivismus in diesem Jahrhundert nachdrücklich propagierte Einsicht ist nicht neu. Sie ist seit Kant in der Erkenntnistheorie und besonders in der Ästhetik präsent.
Ihre Kernthese lautet: Weltsichten sind kulturelle Artefakte. Das Internet als ein neuer kultureller Möglichkeitsraum hat diese Auffassung mit neuer Dynamik in Erinnung gebracht. Auf das Verständnis des christlichen Glaubens angewandt, folgt aus dem Konstruktionsbewußtsein, sei es nun durch ästhetische Reflexion oder die Erfahrung der Virtualität bedingt, eine Betonung des Bilderverbots. Denn das Bilderverbot repräsentiert das in der jüdisch-christlichen Tradition schon enthaltene Konstruktionsbewußtsein. Medienphilosophie und ästhetisches Denken liefern reflexive Explikationen. Sie können vielleicht dazu beitragen, daß sich ein Wahrheitsbegriff in der Theologie durchsetzt, der nicht identitätsphilosophisch, sondern pragmatisch-kommunikativ bestimmt ist.

Im Blick auf die Praxis der Religion denke ich an zwei Aspekte. Zum einen ist da das Thema der neuen Sozialformen im Cyberspace, das auch die religiösen Gemeinschaften betrifft. Die offiziellen Kirchen haben über diese Möglichkeiten der Bereicherung der religiösen Kommunikation und Sozialität noch kaum nachgedacht, geschweige denn etwas ausprobiert. Das Internet wird von den Kirchen in der Regel als System der Informationsvermittlung über Religion und Kirche gesehen. Die Möglichkeit virtueller religiöser Gemeinschaften ist noch weitgehend unerforscht. Im Zusammenhang mit dieser Möglichkeit stehen wichtige Fragen, etwa: Wie ist die telepräsente Interaktion im virtuellen Raum und in Echtzeit im Vergleich zu einem Gespräch zwischen physisch anwesenden Gesprächspartnern zu bewerten? Geht nicht der physische Widerstand des anderen im virtuellen Raum verloren? Und was bedeutet das? Kann man im virtuellen Raum Gottesdienste feiern?

Der zweite Punkt, den ich sehe, knüpft beim Thema der religiösen Kommunikation im Netz an und betrifft das Innovationspotential, das nach meiner Meinung im dezentralen Charakter des Netzes liegt. Seine dezentrale Struktur relativiert den Anspruch von Institutionen und wertet die indiviuduelle Erfahrung auf. Dabei treten die an religiösen Internet-Diskussionen Beteiligten selbst als Produzenten von Theologie auf. Sie sind nicht an institutionellen Verlautbarungen oder gemeindlichen Richtlinien interessiert, sondern an dem Austausch von individueller Erfahrung und Reflexion. Wenn man große Worte benutzen wollte, könnte man sagen, daß das Internet die qua Institution existierenden Machtstrukturen religiöser Kommunikation aufbricht und dem Priestertum aller Gläubigen neue Möglichkeiten eröffnet. Es stellt in jedem Fall eine kommunikative Ermutigung der Subjekte gegenüber Institutionen dar, weil es dem Einzelnen einen kommunikativen und publizistischen Wirkungskreis ermöglicht, der nicht durch institutionelle Gates und Machtverhältnisse vermittelt ist.


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Tagung "Gott im Internet", 7.-9. November 1997, Evangelische Akademie Nordelbien/Bad Segeberg, unterstⁿtzt durch die Technologiestiftung Schleswig-Holstein. Dokumentation. Copyright beim Autor! Mailto:Jörg Herrmann