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- 1. Die Entwicklung des dokumentarischen Theaters
- Die Idee eines dokumentarischen Theaters ist keine Neuheit: schon
- im traditionellen historischen Drama orientierten sich die Dich-
- ter an geschichtlichen Persönlichkeiten und Ereignissen. Goethes
- "Götz von Berlichingen" zum Beispiel stützt sich auf Berlichin-
- gens Memoiren und Schiller beschäftigte sich mit dem Leben des
- Spaniers Don Carlos, um ihn in seinem Werk zu verewigen. Die
- Schriftsteller der damaligen Zeit fühlten sich jedoch den
- geschichtlichen Tatsachen nicht unbedingt verpflichtet. Die Phan-
- tasie des Dichters stand im Vordergrund und die künstlerische
- Freiheit war wichtiger als die faktentreue Überlieferung histori-
- scher Gegebenheiten.
- Daß sich das im Realismus änderte, sagt schon der Name dieser
- Epoche aus. Büchner zum Beispiel wurde von einem Zeitungsartikel
- inspiriert, die Geschichte des "Woyzeck" zu dokumentieren. Er sah
- im "dramatischen Dichter nichts als einen Geschichtsschrei-
- ber dessen höchste Aufgabe ist, der Geschichte, wie sie sich
- wirklich begeben, so nahe als möglich zu kommen". Aber auch er
- verzichtete nicht auf Änderungen und ließ seine eigenen Ideen in
- den Text einfließen.
- Ein genaueres Bild sozialer und geschichtlicher Umstände liefer-
- ten die Naturalisten: Hauptmanns Werk "Die Weber" zum Beispiel
- zeigte die tatsächliche Situation des verarmten Proletariats auf.
- Seine soziale wie existenzielle Not wurde von Hauptmann genau
- beobachtet (er bediente sich außerdem verschiedener schriftlicher
- Quellen) und dokumentiert.
- Den nächsten entscheidenden Schritt hin zum dokumentarischen
- Theater machte der Theaterregisseur Piscator, der aus Unzufrie-
- denheit über den "fehlenden Sinn für die tatsächlichen Vorgänge
- der heutigen Welt" Neuerungen auf dem Gebiet der Regietechnik
- durchführte. Nach Barton sind "die Piscator-Aufführungen der 20er
- Jahre diejenigen, die den bedeutendsten Beitrag zur Entwicklung
- eines dokumentarischen Inszenierungsstils leisteten."
- Sein Dokumentartheater läßt sich allerdings nicht gleichsetzen
- mit dem der 60er Jahre.
- Wie der Ausdruck "dokumentarisches Theater" bzw. "Dokumentarthea-
- ter" schon vermuten läßt, steht bei dieser Form der Aufführung
- die künstlerische Wiedergabe von historisch Verbürgtem im Vorder-
- grund. Das entscheidende Kriterium bei dieser Kunstform ist die
- Abkehr vom Fiktiven. Der Autor erfindet nicht wie zum Beispiel
- noch Brecht eine Parabel, um sein Anliegen zu verdeutlichen,
- sondern greift sozusagen hinein ins volle Leben, befaßt sich mit
- einer historischen Begebenheit oder Person und versucht, diese
- wirklichkeitsgetreu auf die Bühne zu bringen.
- Bei seiner Arbeit an einem Dokumentarstück bedient sich der Autor
- einer wissenschaftlichen Vorgegensweise. Wie Kipphardt erklärt,
- muß "ein heutiger Schriftsteller bei der Behandlung großer
- Stoffe viel mehr wissenschaftliche Vorarbeit leisen, als das frü-
- her notwendig war."
- Wie eine solche Vorgehensweise aussehen kann, soll später noch am
- Beispiel von Kipphardt erklärt werden.
- Aus dieser Art der Bearbeitung eines Stoffes läßt sich dessen
- Belegbarkeit folgern, denn "das historische Material soll aus
- frei zugänglichen Quellen entnommen" sein.
- Doch warum ging die Tendenz in den 60er Jahren hin zum Dokumenta-
- rischen? Barton erklärt es sich dadurch, daß "die Fiktion nicht
- mehr in der Lage sei, gewisse Aspekte der Wirklichkeit ausrei-
- chend darzustellen."
- Beim Dokumentartheater handelt es sich laut Blumer in erster
- Linie um politisches Theater bzw. um einen "Teilaspekt des poli-
- tischen Theaters."
- Diese Behauptung ist sicher gerechtfertigt, betrachtet man die
- Zeit, in der die meisten dokumentarischen Stücke geschrieben wur-
- den, und die Themen, mit denen sich die Autoren befaßten.
- "Anfang der 60er Jahre waren die ersten Zeichen eines politischen
- Erwachens zu spühren. Durch die "Spiegel-Affaire" wurde das bis-
- her unkritische Vertrauen zur Staatsgewalt schwer erschüttert und
- die Rolle der Intellektuellen als das moralische Gewissen der
- Nation gestärkt. Der Eichmann-Prozeß (1961) und die Ausschwitz-
- Prozesse in Frankfurt (1963-65) enthüllten einer jungen Genera-
- tion, in welchem Maße die Nazivergangenheit während der Adenauer-
- jahre verdrängt worden war."
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