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Text File  |  1994-03-25  |  4.1 KB  |  74 lines

  1. 1. Die Entwicklung des dokumentarischen Theaters
  2. Die Idee eines dokumentarischen Theaters ist keine Neuheit: schon
  3. im traditionellen historischen Drama orientierten sich die Dich-
  4. ter an geschichtlichen Persönlichkeiten und Ereignissen. Goethes
  5. "Götz von Berlichingen" zum Beispiel stützt sich auf Berlichin-
  6. gens Memoiren und Schiller beschäftigte sich mit dem Leben des
  7. Spaniers Don Carlos, um ihn in seinem Werk zu verewigen. Die
  8. Schriftsteller der damaligen Zeit fühlten sich jedoch den
  9. geschichtlichen Tatsachen nicht unbedingt verpflichtet. Die Phan-
  10. tasie des Dichters stand im Vordergrund und die künstlerische
  11. Freiheit war wichtiger als die faktentreue Überlieferung histori-
  12. scher Gegebenheiten.
  13. Daß sich das im Realismus änderte, sagt schon der Name dieser
  14. Epoche aus. Büchner zum Beispiel wurde von einem Zeitungsartikel
  15. inspiriert, die Geschichte des "Woyzeck" zu dokumentieren. Er sah
  16. im "dramatischen Dichter nichts als einen Geschichtsschrei-
  17. ber dessen höchste Aufgabe ist, der Geschichte, wie sie sich
  18. wirklich begeben, so nahe als möglich zu kommen". Aber auch er
  19. verzichtete nicht auf Änderungen und ließ seine eigenen Ideen in
  20. den Text einfließen.
  21. Ein genaueres Bild sozialer und geschichtlicher Umstände liefer-
  22. ten die Naturalisten: Hauptmanns Werk "Die Weber" zum Beispiel
  23. zeigte die tatsächliche Situation des verarmten Proletariats auf.
  24. Seine soziale wie existenzielle Not wurde von Hauptmann genau
  25. beobachtet (er bediente sich außerdem verschiedener schriftlicher
  26. Quellen) und dokumentiert.
  27. Den nächsten entscheidenden Schritt hin zum dokumentarischen
  28. Theater machte der Theaterregisseur Piscator, der aus Unzufrie-
  29. denheit über den "fehlenden Sinn für die tatsächlichen Vorgänge
  30. der heutigen Welt" Neuerungen auf dem Gebiet der Regietechnik
  31. durchführte. Nach Barton sind "die Piscator-Aufführungen der 20er
  32. Jahre diejenigen, die den bedeutendsten Beitrag zur Entwicklung
  33. eines dokumentarischen Inszenierungsstils leisteten."
  34. Sein Dokumentartheater läßt sich allerdings nicht gleichsetzen
  35. mit dem der 60er Jahre.
  36. Wie der Ausdruck "dokumentarisches Theater" bzw. "Dokumentarthea-
  37. ter" schon vermuten läßt, steht bei dieser Form der Aufführung
  38. die künstlerische Wiedergabe von historisch Verbürgtem im Vorder-
  39. grund. Das entscheidende Kriterium bei dieser Kunstform ist die
  40. Abkehr vom Fiktiven. Der Autor erfindet nicht wie zum Beispiel
  41. noch Brecht eine Parabel, um sein Anliegen zu verdeutlichen,
  42. sondern greift sozusagen hinein ins volle Leben, befaßt sich mit
  43. einer historischen Begebenheit oder Person und versucht, diese
  44. wirklichkeitsgetreu auf die Bühne zu bringen.
  45. Bei seiner Arbeit an einem Dokumentarstück bedient sich der Autor
  46. einer wissenschaftlichen Vorgegensweise. Wie Kipphardt erklärt,
  47. muß "ein heutiger Schriftsteller bei der Behandlung großer
  48. Stoffe viel mehr wissenschaftliche Vorarbeit leisen, als das frü-
  49. her notwendig war."
  50. Wie eine solche Vorgehensweise aussehen kann, soll später noch am
  51. Beispiel von Kipphardt erklärt werden.
  52. Aus dieser Art der Bearbeitung eines Stoffes läßt sich dessen
  53. Belegbarkeit folgern, denn "das historische Material soll aus
  54. frei zugänglichen Quellen entnommen" sein.
  55. Doch warum ging die Tendenz in den 60er Jahren hin zum Dokumenta-
  56. rischen? Barton erklärt es sich dadurch, daß "die Fiktion nicht
  57. mehr in der Lage sei, gewisse Aspekte der Wirklichkeit ausrei-
  58. chend darzustellen."
  59. Beim Dokumentartheater handelt es sich laut Blumer in erster
  60. Linie um politisches Theater bzw. um einen "Teilaspekt des poli-
  61. tischen Theaters."
  62. Diese Behauptung ist sicher gerechtfertigt, betrachtet man die
  63. Zeit, in der die meisten dokumentarischen Stücke geschrieben wur-
  64. den, und die Themen, mit denen sich die Autoren befaßten.
  65. "Anfang der 60er Jahre waren die ersten Zeichen eines politischen
  66. Erwachens zu spühren. Durch die "Spiegel-Affaire" wurde das bis-
  67. her unkritische Vertrauen zur Staatsgewalt schwer erschüttert und
  68. die Rolle der Intellektuellen als das moralische Gewissen der
  69. Nation gestärkt. Der Eichmann-Prozeß (1961) und die Ausschwitz-
  70. Prozesse in Frankfurt (1963-65) enthüllten einer jungen Genera-
  71. tion, in welchem Maße die Nazivergangenheit während der Adenauer-
  72. jahre verdrängt worden war." 
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