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1994-06-27
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144 lines
/TITRE=Kannitverstan
Kannittverstan
Der Mensch hat wohl täglich Gelegenheit, in
Emmendingen und Gundelfingen so gut als (1) in
Amsterdam, Betrachtungen über den Unbestand der
irdischen Dinge anzustellen, wenn er will, und
zufrieden zu werden mit seinem Schicksal, wenn auch
nicht viel gebratene Tauben für ihn in der Luft
herumfliegen. Aber auf dem seltsamsten Umweg kam ein
deutscher Handwerksbursche in Amsterdam durch den
Irrtum zur Wahrheit und zu ihrer Erkenntnis.
Denn als er in diese große und reiche Handelsstadt
voll prächtiger Häuser, wogender Schiffe und
geschäftiger Menschen gekommen war, fiel ihm sogleich
ein großes und schönes Haus in die Augen, wie er auf
seiner ganzen Wanderschaft (2) von Tuttlingen bis
nach Amsterdam noch keines (3) erlebt hatte. Lange
betrachtete er mit Verwunderung dies kostbare
Gebäude, die sechs Kamine (4) auf dem Dach, die
schönen Gesimse und die hohen Fenster, größer als an
des Vaters Haus daheim die Tür.
Endlich konnte er sich nicht entbrechen (5), einen
Vorübergehenden anzureden. «Guter Freund», redete er
ihn an, «könnt Ihr (6) mir nicht sagen, wie der Herr
heißt, dem dieses wunderschöne Haus gehört mit den
Fenstern voll Tulipanen (7), Sternenblumen und
Levkojen ?» - Der Mann aber, der vermutlich etwas
Wichtigeres zu tun hatte und zum Unglück gerade so
viel von der deutschen Sprache verstand als der
Fragende von der holländischen, nämlich nichts, sagte
kurz und schnauzig «Kannitverstan» und schnurrte
vorüber. Dies war nur ein holländisches Wort oder
drei, wenn man's recht betrachtet, und heißt auf
deutsch soviel als : Ich kann Euch (8) nicht
verstehen.
Aber der gute Fremdling glaubte, es sei der Name
des Mannes, nach dem er gefragt hatte. Das muß ein
grundreicher Mann sein, der Herr Kannitverstan,
dachte er und ging weiter. Gass' aus, Gass' ein kam
er endlich an den Meerbusen, der da heißt : Het Ei
oder auf deutsch : das Ypsilon.
Da stand nun Schiff an Schiff und Mastbaum an
Mastbaum, und er wußte anfänglich nicht, wie er es
mit seinen zwei einzigen Augen durchfechten werde,
all diese Merkwürdigkeiten genug zu sehen und zu
betrachten, bis endlich ein großes Schiff seine
Aufmerksamkeit an sich zog, das vor kurzem aus
Ostindien angelangt war und jetzt eben ausgeladen
wurde. Schon standen lange Reihen von Kisten und
Ballen auf- und nebeneinander am Lande. Noch immer
wurden mehrere herausgewälzt und Fässer voll Zucker
und Kaffee, voll Reis und Pfeffer. Als er aber lange
zugesehen hatte, fragte er endlich einen, der eben
eine Kiste auf der Achsel heraustrug, wie der
glückliche Mann heiße, dem das Meer alle diese Waren
an das Land bringe. «Kannitverstan», war die Antwort.
Da dachte er : Haha, schaut's da heraus ? Kein
Wunder, wem das Meer solche Reichtümer an das Land
schwemmt, der hat gut solche Häuser in die Welt
stellen und solcherlei Tulipanen vor die Fenster in
vergoldeten Scheiben. Jetzt ging er wieder zurück und
stellte eine recht traurige Betrachtung bei sich
selbst an, war er für ein armer Teufel sei unter so
viel reichen Leuten in der Welt. Aber als er eben
dachte : Wenn ich's doch nur auch einmal so gut
bekäme, wie dieser Herr Kannitverstan es hat, kam er
um eine Ecke und erblickte einen großen Leichenzug.
Vier schwarze vermummte Pferde zogen einen ebenfalls
schwarz überzogenen Leichenwagen langsam und traurig,
als ob sie wüßten, daß sie einen Toten in seine Ruhe
führten. Ein langer Zug von Freunden und Bekannten
des Verstorbenen folgte nach, Paar um Paar, verhüllt
in schwarze Mäntel und stumm. In der Ferne läutete
ein einsames Glöcklein. Jetzt ergriff unsern
Fremdling ein wehmütiges Gefühl, das an keinem guten
Menschen vorübergeht, wenn er eine Leiche sieht, und
er blieb mit dem Hut in den Händen andächtig stehen,
bis alles vorüber war.
Doch machte er sich an den Letzten vom Zug, der
eben in der Stille ausrechnete, was er an seiner
Baumwolle gewinnen könnte, wenn der Zentner um zehn
Gulden aufschlüge, ergriff ihn sachte am Mantel und
bat ihn treuherzig um Exküse (9). «Das muß wohl auch
ein guter Freund von Euch gewesen sein», sagte er,
«dem das Glöcklein läutet, daß Ihr so betrübt und
nachdenklich mitgeht.» - «Kannitverstan !» war die
Antwort.
Da fielen unserm guten Tuttlinger ein paar große
Tränen aus den Augen, und es ward (10) ihm auf einmal
schwer und wieder leicht ums Herz. «Armer
Kannitverstan», rief er aus, «was hast du nun von
allem deinem Reichtum ? Was ich einst von meiner
Armut auch bekomme : ein Totenkleid und ein Leintuch
und von allen deinen schönen Blumen vielleicht einen
Rosmarin auf die kalte Brust oder eine Raute". Mit
diesem Gedanken begleitete er die Leiche, als wenn er
dazu gehörte, bis ans Grab, sah den vermeinten Herrn
Kannitverstan hinabsenken in seine Ruhestätte und
ward von der holländischen Leichenpredigt, von der er
kein Wort verstand, mehr gerührt als von mancher
deutschen, auf die er nicht achtgab.
Endlich ging er leichten Herzens mit den andern
wieder fort, verzehrte in einer Herberge, wo man
Deutsch verstand, mit gutem Appetit ein Stück
Limburger Käse, und wenn es ihm wieder einmal
schwerfallen wollte, daß so viele Leute in der Welt
so reich seien und er so arm, so dachte er nur an den
Herrn Kannitverstan in Amsterdam, an sein großes
Haus, an sein reiches Schiff und an sein enges Grab.
(1) : aujourd'hui le comparatif d'égalité est
so...wie.
(2) : die Wanderschaft(en) désigne le tour du pays
accompli jadis par les apprentis pour devenir
artisan.
(3) : accusatif neutre ; on écrirait aujourd'hui
keins.
(4) : der Kamin(e) désigne aujourd'hui plutôt la
cheminée intérieure ; la cheminée du toit :
der Schornstein(e).
(5) : sich einer Sache entbrechen : se soustraire à
qqch.. sich nicht entbrechen können, zu... : ne
pouvoir s'empêcher de... (vieilli) ;
aujourd'hui on dirait : sich nicht enthalten
können.
(6) : archaïque. On dit aujourd'hui können Sie.
(7) : le mot employé aujourd'hui est die Tulpe(n).
(8) : forme archaïque ; on dirait aujourd'hui
Ich kann Sie...
(9) : gallicisme aujourd'hui archaïque. On dit um
Verzeihung/Entschuldigung bitten(a,e).
(10) : archaïque pour wurde, prétérit de werden.
von Johann Peter Hebel (1760-1826).