Bosman, Schlindwein, Solidaritätspool

St.Pauli auf der Siegesstraße?
Ein Gespräch mit Christian Hinzpeter über die Zukunft

In den deutschen Vereinsstuben werden fortgesetzt die Schultern gezuckt. Schuld ist das Bosman-Urteil des Europäischen Gerichtshofes: neues Transfermodell, Spielerkauf per Pool, keine Ausländerbegrenzung. Viele Bundesligavorstände wirken überfordert und ohnehin scheint die ballführende Zukunft ungewisser denn je. Was bringt die juristische Revolution dem bundesdeutschen Fußball? Bayern München und dem FC St.Pauli jedenfalls einige Vorteile. Marschieren beide FC┤s gemeinsam auf der Siegesstraße? DER ÜBERSTEIGER sprach mit Christian Hinzpeter, geschäftsführender Vizepräsident des FC St.Pauli.

Vor den Triumph haben die Fußballgötter einen dornenreichen Weg gelegt. Ende April segnete der Beirat, das höchste Organ des DFB zwischen den Bundestagen, den Nach-Bosman-Plan ab. Die Ligaclubs hatten zuvor mit 26:10 ihrem eigenen Entwurf zugestimmt: einjährige Übergangsfrist mit halbierten Transfer-Preisen, danach ersetzt durch ein Pool-System; ab kommender Saison dürfen beliebig viele westeuropäische Profis spielen (siehe Kasten). Die Neuregelung ist ein hektischer Schnellschuß, nachdem bis zum Bosman-Urteil in der Bundesliga trefflich geschlafen worden war. Spätestens seit dem Plädoyer des deutschen Generalanwalts im September 1995 war die revolutionäre Entwicklung abzusehen. "Niemand ist überzeugt, daß das hundertprozentig richtig ist, was wir tun", gesteht denn auch St.Paulis Vize Hinzpeter. Aber bis zum 30. April hätte eine Entscheidung her gemußt, wegen der auslaufenden Verträge (Paragraph 11) und dem alljährlichen Lizenzverfahren. Der beschrittene dornenreiche Weg sei nun das kleinere Übel. Aber auch dieser Weg kommt St.Pauli teuer zu stehen. Bislang wurde die Verschuldung des FC zwar vorrangig väterlich geregelt, aber keineswegs ausschließlich: Der Verkauf von Golke, Trulsen, Reinke oder Hollerbach, alle mit auslaufenden Verträgen, halfen ehedem der gequälten Vereinskasse. Allein in den beiden letzten Zweitliga-Jahren erwirtschaftete St.Pauli einen Transfergewinn von 4,3 Millionen Mark, rechnete Finanzvorstand Horst Niewiecki dem ÜBERSTEIGER vor. Derlei Großhandel bringt künftig nur noch die Hälfte ein und nach der nächsten Saison wahrscheinlich noch weniger, dann aus dem zu schaffenden Transfer-Pool. Transfersummen sind dann mega-out - vorausgesetzt, die Spielerverträge liefen zuvor aus!

"Teuer" sind die Spieler allen Vereinsliebhabern bereits heute - mehr oder weniger; "teurer" kommen sie zukünftig: 16 Bundesligavereine vermuteten sofort nach der vorweihnachtlichen Urteilsbescherung aus Luxemburg, daß jedenfalls die Gehälter der "Stars" explodieren werden! Dies ergab eine Umfrage des Fachblatts "Kicker". Und so kalkuliert Christian Hinzpeter auch noch heute in seinem engen Büro mit weitem Heiligengeist-Blick: Zunächst steigen die Spielergehälter "dramatisch" an, "danach werden sie sich etwas einpendeln". Auch ohne Stars könnten St.Paulis Finanzen von der Gehaltsexplosion berührt werden. Hinzpeter erwartet von der Konkurrenz bald höhere Angebote als in der Vergangenheit, für hiesige Spitzenspieler wie Thomas Sobotzik. Freiraum hierfür schaffen die reduzierten und später wegfallenden Transfergelder nach Vertragsschluß. Dadurch werde das Gehaltsgefüge nach oben klettern und "Fußballer insgesamt mehr Geld verdienen".

Es geht noch schlimmer

Ruud Gullit, Samdoria Genua, im Gespräch mit der italienischen Zeitung "Gazzetta dello Sport": "Die Kommerzialisierung nimmt immer mehr zu, das geht auf Kosten des Sports. Es zählt nur noch das Geschäft." Nach Ansicht von Gullit habe der "Ausverkauf des Fußballs" mit der Einführung der ChampionsLeague seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht.

Kaum noch Transfergelder, dazu "explodierende Gehälter" ("Kicker") und obendrein x-fach höhere Versicherungszahlungen an die Berufsgenossenschaften: Kann das Wirtschaftsunternehmen FC St.Pauli unter diesen Bedingungen erstklassig überleben? Sicher doch, immerhin zwingt niemand - außer "der Druck" von Maslo, Spielern, Fans, Zuschauern und Hamburger Medien - den Club, auf die ohnehin horrenden Spielergehälter noch einige Mark draufzulegen. Immerhin bewies die laufende Saison: es geht auch mal ohne neue Schulden! Vom DFB auf Transferausgaben "hinter dem Komma" festgelegt (0,6 Millionen DM), gelang ein wundersamer Einklang von erzwungener und gewollter wirtschaftlicher Vernunft mit dem sportlichen Erfolg: ein Modell für die Zukunft!

Pessimisten im selben Boot

Der "Kicker" fragte, "kann Ihr Klub ohne Ablösesummen auf Dauer existieren?"

Jürgen Wähling (bis 30. Juni noch Manager von St.Pauli):
Nein, absolut nicht. Bei unserer Stadionkapazität von 20.000 Zuschauern können wir nicht die erforderlichen Einnahmen erzielen.

Dr. Peter-Michael Diestel (Präsident von Hansa Rostock, z.Zt. unter Verdacht der Vorteilsnahme im Amt - als DDR-Innenminister der Nach-Wendezeit):
"Überhaupt nicht. Die Konsequenz würde heißen, daß im Osten Deutschlands auf Dauer kein Fußball mehr stattfindet."

Unionsbürger

Früher waren wir bekanntlich (fast) überall Ausländer. Heute sind wir nun (fast) überall Inländer, genaugenommen "Unionsbürger". Kicker aus einem der 15 Staaten der Europäischen Union dürfen künftig bei St.Pauli in unbegrenzter Zahl ihrem holprigen Handwerk nachrennen. Mitrennen dürfen drei Nicht-Unionsbürger (diese Begrenzung verstößt wohl gegen den Gleichheitsgrundsatz des Artikel 8 im EU-Vertrag - klagen bitte). Sogenannte "Fußball-Deutsche" dürfen in unbegrenzter Zahl mitspielen; solche Ausländer kickten fünf Jahre in der BRD (drei davon als Jugendliche).

Zugleich will der DFB mindestens zwölf Bundesdeutsche unter Vertrag bei St.Pauli - und anderswo - sehen. Hinten herum wird damit wieder die Freizügigkeit rechtlich eingeschränkt. Auch dies erscheint nach dem Bosman-Urteil illegal.

Billiger Einkaufen

Ferner existieren zwei Mittel gegen das Transferdilemma: Nachwuchsarbeit, die auch schon vor Bosman als profitabel galt, sowie Verträge mit langer Laufzeit: Wird dann ein Dammann, Pröpper oder Scharping von Real, Juventus oder Lübeck geködert, wird es wenigstens teuer - wie gehabt. Anders als die Gehälter werden die durchschnittlichen Transferpreise aber wohl sinken! Zudem zeigt auch dieses Medikament manchmal unangenehme Nebenwirkungen: Lange Laufzeiten verführen schwache Gemüter zu einer Rentenmentalität. Hier haben wir es mit einem psychologischen Problem zu tun, befindet Hinzpeter und auch Vizepräsident Niewiecki plädiert für eine "handverlesene Auswahl". Einige Millerntor-Kicker verdienen jedoch scheinbar Vertrauen: Bis zum Redaktionsschluß wurden die Kontrakte von Gronau (bis 1997), Schweißing und Sobotzik (beide bis 1998) verlängert. Andere wie Dammann (3-Jahres-Vertrag) und Stanislawski genießen zunächst das Vertrauen ohne weitere Übereinkunft.

Wird der Verkauf von Spielern für St.Pauli einerseits weniger lukrativ, kann anderseits preiswerter eingekauft werden! Im Einzelfall könnte dies weiterhelfen. Das knappe Club-Budget wird aber auch zukünftig keine elf Italiener ans Millerntor führen, wenngleich die Nach-Bosman-Satzung des DFB ab dem 1. Juli den unbegrenzten Einsatz von Kickern aus der Europäischen Union erlaubt. Ansonsten dürfen drei Nicht-Unionsbürger ihrem holprigen Handwerk nachrennen. Jedoch erwartet Hinzpeter, schon aus finanziellen Gründen, keinen Umbruch der Mannschaftsstruktur! Hierfür sprechen zudem die unterschiedlichen Spielermentalitäten und auch die Zuschauerbindung. "Auch Bayern braucht einen Nerlinger neben Klinsmann und Kostadinow." Ausschlaggebend sei letztlich aber nicht der Geburtsort der Pauli-Kicker, sondern deren persönliche Bindung an den hoffentlich noch etwas anderen Club. Auch wenn es diskussionswürdig geworden sei, hofft Jurist Hinzpeter weiterhin, daß "es etwas Besonderes ist, hier zu spielen."

"Keine Chance ranzukommen"

Das alte Transfermodell bewirkte einen bescheidenen finanziellen Lastenausgleich zwischen Arm und Reich. "Arm" blieb trotzdem arm und "Reich" halt reich. Die Kluft zwischen beiden wächst seit langem. Gleichwohl sei es nach dem Wegfall des bisherigen Systems, "von existentieller Bedeutung, daß in irgendeiner Form ein Ausgleichssystem weiterhin existiert". Dies soll in der übernächsten Saison der "Solidaritätspool" (DFB) leisten. In ihn sollen, so der vorläufige Diskussionsstand, 50 Millionen Mark aus den Fernsehgeldern fließen. Entsprechend von Kauf und Verkauf und der Wirtschaftskraft der betroffenen Vereine wird St.Pauli aus diesem Soli-Topf Geld für untreue Spieler erhalten. Die Summen aus dem heutigen Transfergeschäft (nach Vertragsende) dürften allerdings nicht erreicht werden. Jedoch könnten die Summen aus Pool und klassischem Transfergeschäft (aus laufenden Verträgen) einigermaßen an die früheren Erlöse heranreichen. Und doch dürfte der dynamische Hinzpeter mit seiner Einschätzung recht behalten: Die finanzielle und damit sportliche Kluft zwischen Arm und Reich wird - wie in der Vor-Bosman-Zeit - größer werden, aber nun noch schneller!

"Ich bin überzeugt, daß wir keine Chance mehr haben, an Dortmund oder Bayern ranzukommen." Dahinter gebe es maximal weitere neun Vereine, die um die UEFA-Cup-Plätze streiten. "Selbst diese Vereine sind weit weg von unseren Möglichkeiten." Der eloquente Vizepräsident erinnert daran, daß St.Pauli in dieser Saison mit einer Transferauflage des DFB von 600.000 DM leben muß. Und doch könnte der FC noch die Siegesstraße erwischen - auf welcher die gehaßliebten Bayern gerade am Horizont entschwinden. St.Pauli ist zwar arm - aber, trauen wir den Weisener┤schen Bilanzen, gesund! Solches kann nicht von jedem Bundesliga-Mitglied behauptet werden. Derweil die Einnahmen innerhalb von zehn Jahren in Wolkenhöhe kletterten, allein die Fernsehgelder sprangen von 12 auf 140 Millionen DM, schufen bundesweit die kleinen und großen "Paulicks" einen alpenhohen Schuldenberg. Und bekanntlich liegen die Alpenspitzen meist oberhalb der Wolkengrenze. "Alles, was wir reinholen, versickert", seufzte DFB-Ligasekretär Wolfgang Holzhäuser gegenüber der FAZ. Spieler kassieren bis zu vier Millionen für 34 Kicks, beklagt selbst die ran-fromme Fachpresse den bolzenden Wahnsinn. Ein Club soll 60 Millionen Miese aufgetürmt haben, munkelt die Szene. Insgesamt beträgt die Schuldenlast der Bundesliga mittlerweile, dies ergab das jüngste Lizenzverfahren, 550 Millionen DM! Und spätestens wenn der sportliche Erfolg ausbleibt, bleibt auch das modernisierte Stadion halbleer. Eine Sanierung á la HSV, der ehedem Thomas Doll toll verkaufte ("die spinnen, die Römer"), wird zukünftig schwerlich möglich sein. Der Konkurs-Geier kreist seit Bosman schon über mancher Bundesliga-Arena.

Angesichts des Umbruchs war der DFB gnädig gestimmt. Alle Antragsteller dürfen auch in der kommenden Saison mitspielen - aber nur elf ohne Auflagen, darunter erstmals der FC St.Pauli! Eine solide Geschäftsführung kann einem schuldenfreien FC St.Pauli in der Nach-Bosman-Ära einen gewichtigen Wettbewerbsvorteil gegenüber manchem Konkurrenten verschaffen. Sollte uns am Ende der ungeliebte kapitalistische Fußballmarkt sportliche Triumphe bescheren?

Hermannus Pfeiffer

Solidaritätspool

An die Stelle des alten Transfermodells (dann mit halbierten Preisen) wird ab Juli 1997 ein "Solidaritätspool" treten. In diesen Pool sollen, so der vorläufige Diskussionsstand, 50 Millionen Mark fließen. Dies wäre das jüngst ausgehandelte Plus vom Fernsehsender Premiere (nun zwei Live-Spiele pro Woche). Verkauft St.Pauli dann Carsten Pröpper an den neuen Deutschen Meister, wird, entsprechend der Wirtschaftskraft von Schalke 04, ein Bonus aus dem Pool fällig. Ausgezahlt wird erstmals am Ende der Saison 1997/98.

Revolution im Fußball:

Transfersystem nach Bosman

Auch nach dem 1. Juli bleibt es wie gehabt, solange der geschäftsmäßige Fußballer einen Vertrag mit St.Pauli hat: Bei einem Vereinswechsel wird eine Transferentschädigung fällig. Diese wird zwischen den Vereinen ausgehandelt. Aber nichts bleibt wie gehabt, in anderen Fällen. Obendrein zeigt der DFB sein radikales Herz: wo es ging, so scheint es, verstieß er gegen geltendes Recht.

Übergangsfrist

Für die kommende Spielzeit 1996/97 wurde eine Halbierung der Transfersummen beschlossen, die nach Ablauf (!) eines Vertrages zu zahlen sind. Diese Summen werden nach einem vom DFB beschlossenen Schlüssel ermittelt, für den u.a. die Finanzkraft der Vereine maßgeblich ist: Bayern wird daher für Mario Basler deutlich mehr bezahlen, als St.Pauli dies müßte - trotzdem unkäuflich, der Mann!

Allerdings verstößt eine solche Übergangsfrist offensichtlich gegen das Bosman-Urteil, in dem eine Zwischenregelung ausdrücklich untersagt wird! Schließlich hat der Europäische Gerichtshof kein neues Gesetz erlassen, sondern lediglich geltendes Recht bestätigt.

Übrigens, beim Wechsel eines Amateurspielers zu St.Pauli müssen mindestens 100.000 DM als "Ausbildungsentschädigung" bezahlt werden, wenn der Spieler Profi wird. Bleibt er Amateur, wird┤s deutlich billiger.

Paragraph 11

Ändert sich das Transfersystem, wie es jetzt der Fall ist, greift der Paragraph 11 in den DFB-Musterverträgen: Verein wie Spieler können einseitig den auslaufenden Vertrag um ein Jahr verlängern! Der Paragraph funktioniert auch bei einem Abstieg in die 2. Liga. Rechtlich ungeklärt sind die Konsequenzen bei geliehenen Spielern (Becker, Szubert).

Die meisten Profis, auch bei St.Pauli, haben solch einen mustergültigen Vertrag.

Ob der Paragraph 11 Rechtens ist, wenn er etwa den abwanderungswilligen Martin Dahlin bei Gladbach festnagelt, darf bezweifelt werden (genau solches untersagt das Bosman-Urteil). Sechs unserer Kicker zogen die º-11-Karte:


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