"Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren": Mit dieser Feststellung, der die Wirklichkeit täglich ins Gesicht schlägt, beginnt Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Ausgearbeitet wurde sie von der 1946 geschaffenen Menschenrechtskommission, der 18 Regierungsvertreter angehörten. Entgegen anderslautender Behauptungen sind nicht nur Staaten des Westens und Ostens, sondern auch neun Länder des sogenannten Südens vertreten gewesen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde am 10. Dezember 1948 von der UNO-Generalversammlung in Paris verabschiedet. Seitdem ist der 10. Dezember der internationale Tag der Menschenrechte. Obwohl die UNO-Erklärung von 1948 nicht rechtsverbindlich ist, hat sie bis heute außerordentliche Wirkungen. Dies liegt vor allem daran, daß die in der Erklärung fixierten Menschenrechte überall auf dieser Erde die Hoffnungen und Ziele all derer beschreiben, die sich von Unterdrückung und Not befreien wollen.
"Papier ist geduldig", sagt der Realist - und hat Recht. Die weltweiten Menschenrechtsverletzungen beweisen, daß wir erst am Beginn der Wirkungsgeschichte der Menschenrechte stehen. Das Erreichte lehrt zugleich, daß der Kampf vieler Menschen, "frei von Furcht und Not leben" - so steht es in der Präambel der Erklärung - zu können, nicht ohne Aussicht ist. Deshalb gilt auch nach fast 50 Jahren: Die Menschenrechte sind zwar ein "zu erreichendes gemeinsames Ideal", aber sie sind nicht idealistisch. Sie sind die Grundlage für das Zusammenleben der Menschen in Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit - innerhalb eines Staates und weltweit.
Die Antwort auf Unrechtserfahrungen
Die existentielle Wurzel aller menschenrechtlichen Forderungen ist der Protest gegen erlittenes Unrecht. So ist es auch mit der Menschenrechtserklärung. In der Präambel heiß es, daß die "Mißachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei führten, die das Gewissen der Menschheit tief verletzt haben." Damit sind die systematische Vernichtung der Juden durch die Nazis, der Massenmord an Sinti und Roma sowie die politische Verfolgung und die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges gemeint. Dies sollte in Zukunft nicht mehr geschehen. In der Präambel wird gefordert, "die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechtes zu schützen, damit der Mensch nicht zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung als letztem Mittel gezwungen wird." "Jeder einzelne und alle Organe der Gesellschaft" haben die Aufgabe, bei der Verwirklichung der Menschenrechte mitzuhelfen. Auch die Wirtschaft und die multinationalen Konzerne sind davon nicht ausgenommen.
Die Unteilbarkeit aller Menschenrechte
Jemand hat die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte einmal als das "am besten gehütete Geheimnis" bezeichnet. Daran ist viel Wahres. Wir stellen immer wieder fest, daß auch sogenannte Multiplikatoren nicht wissen, was in ihr steht, geschweige denn, daß sie das Dokument schon einmal in Händen gehalten und gelesen haben.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte schreibt bürgerliche und politische sowie soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte fest. Das Folterverbot und die Freiheitsrechte sind in ihr ebenso formuliert wie das durch die Praxis vieler Staaten in Frage gestellte Recht auf Asyl (Artikel 14), das Recht auf Arbeit (Artikel 23), auf soziale Sicherheit (Artikel 22), auf Nahrung und Wohnen (Artikel 25) wie auf Bildung (Artikel 26). Die UNO-Erklärung faßt alle diese Rechte in Artikel 28 zusammen, in dem sie feststellt: "Jeder Mensch hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in welcher die ... angeführten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können."
Durch die Betonung der Unteilbarkeit und gegenseitigen Abhängigkeit der zivilen und sozialen Rechte greift der Text von 1948 jeder heute existierenden Verfassung weit voraus. So sehr die individuellen Freiheitsrechte bis heute verletzt werden, so sehr sind die sozialen Rechte praktisch Stiefkinder der Menschenrechte geblieben. Bei der letzten Verfassungsreform nach der Vereinigung Deutschlands sind die in der Erklärung verankerten sozialen Rechte noch nicht einmal zu Staatszielbestimmungen des Grundgesetzes gemacht worden. Eine soziale und internationale Ordnung, die ein Leben ohne Angst, Not, Unfreiheit und Gewalt ermöglicht, ist die Utopie der Menschenrechte. An ihr können sich alle staatlichen Ordnungen ein Beispiel nehmen, indem sie kein Recht aus der Erklärung über ein anderes stellen, keines der Rechte benutzen, um ein anderes Recht unwirksam zu machen und die Rechte des Einzelnen nur begrenzt sein lassen durch die Rechte anderer Menschen.
Die "Mutter" des Völkerrechts
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist die Basis des internationalen Menschenrechtsschutzsystems. Die Kodifizierung der Menschenrechte in Form von annähernd 70 Verträgen und Abkommen ist die eigentliche Erfolgsgeschichte. Aus der Erklärung von 1948 sind alle wichtigen Konventionen hervorgegangen. Schon bei der Abfassung des deutschen Grundgesetzes durch die Parlamentarische Versammlung zirkulierten die Entwürfe für die Menschenrechtserklärung. Einige Formulierungen sind ihr direkt entnommen. Ähnlich verhält es sich mit den Verfassungen vieler junger Staaten, die aus den antikolonialen Befreiungsbewegungen hervorgegangen sind. Fast alle berufen sich auf die Menschenrechtserklärung. Ebenso die regionalen Menschenrechtsschutzsysteme, die ohne die Erklärung von 1948 unvorstellbar sind.
Aus ihr haben sich auch die - allerdings bis heute schwachen - Überprüfungsgremien und -instrumente entwickelt. Sie müssen gestärkt werden. Das werden die Regierungen aber nur tun, wenn der Druck von unten zunimmt. Daß Menschenrechte heute zum Beispiel beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof einklagbares Recht sind, ist - unabhängig von ihrer ständigen Mißachtung - der eigentliche Fortschritt.
Wer hätte vor einigen Jahrzehnten gedacht, daß die wichtigsten Menschenrechtsübereinkommen heute von vielen Staaten ratifiziert sind? Wer hat es 1948 für möglich gehalten, daß die Programmsätze der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte einmal einklagbares positives staatliches Recht würden, das die Souveränität der Staaten völkerrechtlich begrenzt und es den Regierenden verbietet, mit den ihnen anvertrauten Menschen so umgehen zu können, wie sie es für richtig halten? Wer hätte damit gerechnet, daß nach der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz das Amt eines Hochkommissars für Menschenrechte geschaffen würde? Wer hätte vorausgesehen, daß die weltweite Menschenrechtsbewegung so wachsen würde? Wer hätte es für möglich gehalten, daß im Juni 1998 eine Regierungskonferenz zusammentreten wird, um das Statut für einen Internationalen Strafgerichtshof zu verabschieden?
All diese Fortschritte sind das Ergebnis weltweiter Anstrengungen beim Kampf um die Menschenrechte; da braucht die Menschenrechtsbewegung ihr Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. Aber es bleiben Fragen: Warum wurden die Erfolge erst nach Katastrophen wie im früheren Jugoslawien oder in Ruanda möglich? Warum werden immer noch in der Hälfte aller Staaten Menschen wegen ihrer Meinung, ihres Glaubens, ihrer Rasse, ihres Geschlechts oder ihrer ethnischen oder sozialen Herkunft inhaftiert? Warum werden in einem Drittel aller Staaten Menschen gefoltert? Die Erfolgsgeschichte der Menschenrechte darf den Blick auf den Schmerz und das Leid, das Menschen anderen unter bestimmten politischen Verhältnissen zufügen, nicht verstellen. Und: Mit der erfolgreichen Hilfe für jeden von Menschenrechtsverletzungen bedrohten Bürgern halten wir offen, was der Talmud mit den Worten "Wer ein Menschenleben rettet, rettet eine ganze Welt" ausdrückt.
Die Menschenrechte sind universell gültig
Die Menschenrechte sollten von Anfang an universell gültig sein. Das sagt auch schon der Name: Die Übersetzung des englischen Wortes "Universal" mit "Allgemeine" Erklärung der Menschenrechte gibt dies nur unvollkommen wieder. Die Menschenrechte sollen überall gelten. Eingeschränkt wurde dies allerdings durch das "Nichteinmischungsgebot" der UNO-Charta, auf die sich Regierungen immer wieder berufen haben, um Kritik von außen abzuwehren oder zu schwächen. Mit dieser Unklarheit haben die 171 Staaten, die vor fünf Jahren in Wien auf der UNO-Weltmenschenrechtskonferenz eine Schlußerklärung und einen Aktionsplan verabschiedet haben, Schluß gemacht und festgestellt: "Der universelle Charakter dieser Rechte und Freiheiten steht außer Frage". Und: "Die Förderung und der Schutz aller Menschenrechte ist eine legitime Angelegenheit der internationalen Gemeinschaft". Und in Wien ist noch mit einem anderen Mißverständnis aufgeräumt worden. Die Konferenz hat das Recht auf Entwicklung zum integralen Bestandteil der Menschenrechte gemacht und festgestellt: "Wenngleich die Entwicklung die Durchsetzung aller Menschenrechte erleichtert, ist es nicht zulässig, sich auf Entwicklungsrückstände zu berufen, um die Einschränkung international anerkannter Menschenrechte zu rechtfertigen."
Das überzeugt, wenn sich auch nicht alle Politiker daran halten. Allzuoft hört man folgenden Unsinn: "Wer hungert, braucht keine Menschenrechte, sondern etwas zu essen." Das Gegenteil ist richtig: Wer soziales Elend beseitigen will, braucht die politischen Rechte wie die Luft zum atmen. Ohne Meinungs- Versammlungs- und Organisationsfreiheit ist der Kampf für die Durchsetzung sozialer Rechte nicht zu führen. Und den BGeweis, daß Folter und Mißhandlungen die Entwicklung fördern, hat noch keiner erbracht. Richtig ist deshalb: Alle Rechte brauchen sich gegenseitig. Und keines darf benutzt werden, um ein anderes auszuhebeln.
An anderer Stelle der Wiener Abschlußerklärung heißt es: "Zwar ist die Bedeutung nationaler nationaler und regionaler Besonderheiten und unterschiedlicher historischer, kultureller und religiöser Voraussetzungen im Auge zu behalten, aber es ist die Pflicht der Staaten, ohne Rücksicht auf ihre jeweiliges politisches wirtschaftliches und kulturelles Systeme alle Menschenrechte und Grundfreiheiten zu fördern und zu schützen."
Man hätte es auch positiv formulieren können, denn in allen Kulturen, Religionen und Regionene gibt es wegen der Erfahrung erlittenen Unrechts ein Bewußtsein für menschliche Würde und Gerechtigkeit. Anders herum ausgedrückt: Kulturelle und religiöse Besonderheiten dürfen nicht gegen die Rechte der Frauen in Stellung gebracht werden - so alutete auch die Botschaft der Pekinger Weltfrauenkonferenz der UNO von 1995.
Menschenrechte - eine Real-Utopie
Recht und Ideal - das macht die Menschenrechte aus. Auch nach 50 Jahren sind wir bei der Realisierung des Zusammenlebens der Menschen erst ganz am Anfang. Nach wie vor sind sie die Hoffnung derer, denen die Menschenrechte vorenthalten werden: zum Beispiel politisch Verfolgte und Minderheiten, Kinder und um ihre Rechte kämpfende Frauen. Flüchtlinge und Asylsuchende. Nach wie vor beschreiben die Menschenrechte die Ziele derer, die gegen Not, Angst, Unfreiheit und Gewalt kämpfen. Und sie sind bereits Berufsgrundlage für die, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen wurden oder von ihnen bedroht sind. Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen, darunter amnesty international, kämpfen für ihre Durchsetzung. Sie sind in ihrer Arbeit heute immer weniger durch offene Gegenerschaft gegen die Menschenrechte in Frage gestellt, vielmehr bedroht sie die Menschenrechtsrhetorik der Politik, der allzuoft keine Tagen folgen. Statt dessen dominieren politische und wirtschaftliche, militärisch und geopolitische Überlegungen. Die Politiker benutzeten ihr Verständnis von Menschenrechten fast durchgehend zur Legitimation einer selektiven und von Doppelstandards geprägten sogenannten Menschenrechtspolitik.
Instrumentalisierung
Oft instrumentalisiert die Politik die Menschenrechte sogar für ganz andere Zwecke. Die Rechte selbst und die Form ihrer durchsetzung müssen sich aber entsprechen: Der Dichter Heinrich Heine formulierte einmal: "Humanität ist streibar von Beruf, was nicht hindert, daß Friedlichkeit ihr Wesen selbst ist." Die erdrückende "Umarmung" darf einer vermeintlcih den Menschenrechten gegenüber wohlwollenden Politik nicht gelingen. Es ist die Aufgabe der Verteidiger der Menschenrechte, der Zivilgesellschaft, der Menschenrechtsorganisaiton, dieser "Umarmung" zu widerstehen und der "Watchdog" der Politik zu bleiben. Wenn es nach ihrer rechtlichen Fixierung seit 1948 in den nächsten 50 Jahren vor allem um die durchsetzung der Menschenrechte gehen muß, ist es wichtig, der gewaltträchtigen Wirklichkeit die ganze reale Utopie der Menschenrechte entgegenzuhalten.
Mit der am 10. Dezember 1997 begonnenen Kampagen zum 50jährigen Jubiläum der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte will amnesty international die eklatante Unkenntnis über den Inhalt der Erklärung beseitigen und eine Neuverpflichtung aller Menschen auf die darin verankerten Menschenrechte erreichen. Die Unteilbarkeit der Menschwenrechte wird unterstrichen, die universelle Gültigkeit gegen enventuelle Aufweichungsmanöver verteidigt. Ein weiterer Schwerpunkt gilt dem schutz engagierter Menschenrechtler in aller Welt, die unter teilweise lebensgefährlichen Bedingungen für das Ideal der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte kämpfen. Ein Ziel von amnesty international ist auch die Verabschiedung einer Erklärung zum Schutz aktiver Menschenrechtler durch die Vereinten Nationen. Ein solcher Entwurf wird seit Jahren diskutiert.
50 Jahre Menschenrechtserklärung - das wird kein Grund zum Feiern sein. amnesty international ist gegen Rituale des Gedenkens, die sich aus den Konflikten dieser Welt heraushalten. Jeder sollte selbstkritisch vor seiner eigenen Haustür kehren. Keiner sollte die Solidarität verweigern, die die von Menschenrechtsverletzungen Bedrohten brauchen. Nur so kann die Kraft entstehen, die uns dem Ziel näherbringt: der Verwirklichung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.
Volkmar Deile
Generalsekretär der deutschen Sektion von amnesty international
Letzte Aktualisierung dieser Seite: 10. Dezember 1997 |