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50 Jahre Allgemeine ErklΣrung der Menschenrechte - Zeit zu handeln amnesty international: ai-Journal 12/97-01/98

Interview mit Gerhart R. Baum

"Starke politische Wirkung"

Der frⁿhere Bundesinnenminster Gerhart Baum (FDP) ist seit einigen Jahren im Auftrag der Bonner Regierung in Sachen Menschenrechte aktiv. Im GesprΣch mit dem ai-Journal Σu▀ert sich der 65jΣhrige zur Rolle der UNO-Menschenrechtskommission und der deutschen Menschenrechtspolitik sowie ⁿber sein VerhΣltnis zu Nichtregierungsorganisationen.

Gerhart R. Baum ai-Journal: Im Dezember 1998 wird die Allgemeine ErklΣrung der Menschenrechte 50 Jahre alt. Wie schΣtzen Sie Bedeutung und Umsetzung zur Zeit ein?

Gerhart R. Baum: Ich wⁿnsche mir, da▀ wir uns im JubilΣumsjahr sehr um die Anwendung kⁿmmern und feststellen, was aus der ErklΣrung in der Praxis geworden ist. Die ErklΣrung ist unverzichtbar und ein Glⁿcksfall in der Menschheitsgeschichte, zustandegekommen unter dem Eindruck der Greuel des Zweiten Weltkrieges. Meine Erfahrung aus den vergangenen Jahren - beginnend mit der Weltmenschenrechtskonferenz 1993 in Wien - zeigt mir, da▀ ein langsamer Proze▀ in Gange ist, der Allgemeinen ErklΣrung der Menschenrechte in der Praxis mehr Bedeutung zu geben. 1998 sollte also genutzt werden fⁿr die Implementierung und - ganz wichtig - fⁿr die Ratifizierung der internationalen Abkommen durch die noch z÷gernden Staaten.

Sie sind Leiter der deutschen Delegation auf der jΣhrlichen Sitzung der Menschenrechtskommission in Genf. Was kann das Gremium bewirken?

Die Menschenrechtskommission ist das politischste Gremium der Vereinten Nationen neben dem Sicherheitsrat. Dort sto▀en alle Konflikte der Welt, alle Meinungen und Positionen mitunter sehr hart aufeinander. Die Menschenrechtskommission lebt von ihrer moralischen AutoritΣt, und sie lebt auch von ihren AktivitΣten, Resolutionen, Berichterstattungen, Feldoperationen sowie von der Arbeit des Menschenrechtszentrums. Sie lebt davon, da▀ sie versucht, sich einzumischen, aber sie kann keine Sanktionen verhΣngen oder Truppen in Krisenregionen schicken - sie kann aber technische Hilfe leisten. Hier k÷nnte und mⁿ▀te noch viel mehr geschehen.

Wie reagieren die betroffenen Staaten, wenn eine Resolution verabschiedet wird?

LΣnderresolutionen sind das schΣrfste Mittel im Katalog der Ma▀nahmen der Menschenrechtskommission. Sie haben eine starke politische Wirkung: Die meisten LΣnder versuchen mit aller Kraft, Resolutionen oder schon Verhandlungen ⁿber Resolutionen zu verhindern - siehe China.

Reicht denn - gerade vor der Hintergrund aktueller Menschenrechtskrisen - eine jΣhrliche Sitzung der Menschenrechtskommission aus?

Wir haben seit einigen Jahren die M÷glichkeit, Sondersitzungen einzuberufen. Das ist auch schon geschehen, zu Ruanda und zu Jugoslawien. Ansonsten gibt es zwei M÷glichkeiten: Entweder man macht zwei Konferenzen, eine im Frⁿhjahr und eine im Sommer und/oder man schafft neben der Kommission ein stΣndiges Gremium, das die GeschΣfte kompetenter fⁿhren kann als das heutige PrΣsidium. Ein Kontinuum ist seit 1994 auch der Hochkommisar fⁿr Menschenrechte.

Welche Erwartungen haben Sie denn an die neue Amtsinhaberin Mary Robinson, und wie schΣtzen Sie die Arbeit von deren VorgΣnger ein?

JosΘ Ayalo Lasso war im absoluten Niemandsland und hat das nach allen Seiten interpretierbare Mandat mit seiner diplomatischen Art eigentlich gut ausgefⁿllt. Einiges fehlte auch, zum Beispiel die ╓ffentlichkeitsarbeit. Seine Nachfolgerin findet eine bessere Situation vor. UNO-GeneralsekretΣr Kofi Annan hat die Menschenrechte in den Mittelpunkt seiner Politik gestellt. Von daher stelle ich mir eine StΣrkung der Position der Hochkommissarin vor. Ihr sind aber Grenzen auferlegt durch die Staaten der Vereinten Nationen, die schlie▀lich entscheiden. Die Staaten, die an den Menschenrechten nicht sonderlich interessiert sind, haben ja eine Mehrheit. Mit Mary Robinson beginnt eine neue Phase der Menschenrechtspolitik. Dies hat sie Mitte November vor der UNO ⁿberzeugend dargelegt. In der Diskussion habe ich sie nachdrⁿcklich unterstⁿtzt.

Die Menschenrechtsarbeit der UNO leidet auch unter finanziellen Problemen.

Die finanzielle Ausstattung mu▀ verbessert werden, aber das ist sehr schwer. Es liegt auch an den Staaten der Dritten Welt, die sagen: Es ist uns nicht ganz geheuer, fⁿr Menschenrechte Geld auszugeben. Aber man mu▀ auch sehen: Die Menschenrechtspolitik in den Vereinten Nationen findet an verschiedenen Stellen statt. Der ganze Etat zu Guatemala lief nicht ⁿber das Menschenrechtszentrum, ebenso die Arbeit zu Kambodsacha und Namibia. Auch Feldoperationen und "Peace keeping missions" mit Menschenrechtselementen sind nicht Teil des Genfer Haushalts.

Welche LΣnder sind derzeit Schwerpunkt Ihrer Arbeit?

Wir befassen uns in der EuropΣischen Union zur Zeit mit etwa 45 LΣndern, die wir als Union in unserem Beitrag in der Generalversammlung erwΣhnen - darunter China. Wir mⁿssen natⁿrlich Schwerpunkte setzen und politische VerΣnderungen beobachten. In China gibt es zum Beispiel eine wachsende Kooperation, wie es scheint...

... inwiefern?

Es finden zur Zeit auf verschiedenen Ebenen MenschenrechtsgesprΣche statt - auch europΣisch-chinesische und deutsch-chinesische GesprΣche. Das ist neu. Und die Chinesen haben angekⁿndigt, dem Internationalen Pakt ⁿber wirtschaftliche und soziale Rechte beizutreten. Was ergibt sich daraus? Fⁿhrt das zu einer sichtbaren VerΣnderung? Eines wird auf jeden Fall bleiben: Wir werden die Menschenrechtssituation in China kritisieren mⁿssen - es fragt sich nur in welcher Form.

Mu▀ man mit asiatischen Staaten anders umgehen als mit europΣischen oder afrikanischen? Es gibt ja die berⁿhmte Argumentation vom angeblich westlichen Wert der Menschenrechte.

Dieses beliebte Argument wird oft garniert mit der Feststellung: Ihr habt uns ja auch Hunderte Jahre kolonialisiert und unterdrⁿckt - und jetzt wollt ihr uns auch noch euer MenschenrechtsverstΣndnis aufdrΣngen. Das Argument wird natⁿrlich von unterschiedlichen Leuten gebraucht: Es wird ernsthaft gebraucht von Menschen, die auf religi÷se und kulturelle Traditionen hinweisen, aber es wird eben auch von Leuten benutzt, die damit ihre Unterdrⁿckungsmechanismen rechtfertigen wollen. Es gibt unverzichtbare Menschenrechte. Diese unterliegen nicht unterschiedlicher Bewertung, wo auch immer wir uns befinden. Trotzdem versuche ich bei meiner Arbeit in Genf, jede Attitⁿde westlicher Belehrung zu unterlassen und mit dem Sⁿden einen Dialog zu fⁿhren ⁿber dessen Lage. Mit einer Schwerpunktsetzung auf die sozialen Rechte versuche ich Hardlinern wie Kuba das billige Argument zu nehmen, da▀ es dem Westen nur um die Durchsetzung seiner eigenen Ziele geht. Das Recht auf Entwicklung und die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte sind seit langem fⁿr die deutsche Delegation ein Schlⁿsselthema im GesprΣch mit dem Sⁿden.

Gibt es Ihrer EinschΣtzung nach Menschenrechtsverletzungen in den Staaten der EuropΣischen Union...

...Natⁿrlich.

... und sind sie Thema in der deutschen Menschenrechtspolitik?

Ja, das sind sie. Und meine Erfahrung ist es, da▀ man andere nur kritisieren kann, wenn man besonders selbstkritisch ist. Wir haben uns vor zwei Jahren mit den Vorwⁿrfen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit auseinandersetzen mⁿssen - Deutschland war Gegenstand eines Tagesordnungspunktes - und wir haben uns dem selbstkritisch gestellt. Die Stellungnahme der EU in Genf zu Menschenrechtsverletzungen in anderen Staaten beginnt mit Selbstkritik. Ohne das wΣren wir v÷llig unglaubwⁿrdig.

amnesty international hat zu Deutschland mehrere Berichte vorgelegt. Stimmen Sie der EinschΣtzung von ai zu, da▀ es ein Muster von Menschenrechtsverletzungen in Deutschland gibt?

Was verstehen Sie darunter?

Von einem Muster sprechen wir, wenn es sich bei den VorfΣllen nicht um EinzelfΣlle handelt, aber auch nicht unbedingt um systematische Menschenrechtsverletzungen, sich jedoch bestimmte Merkmale wiederholen. Fⁿr Deutschland hei▀t das zum Beispiel: Die ▄bergriffe finden kurz nach der Festnahme statt, die Opfer sind oft AuslΣnder oder Deutsche auslΣndischer Abstammung, viele ▄bergriffe konzentrieren sich auf Ballungsgebiete, Strafanzeigen werden von Polizisten oft mit Gegenanzeigen beantwortet, die StaatsanwΣlte ermitteln nicht immer schnell und sorgfΣltig...

... Ja, das ist so. Es gibt allerdings auch demokratische Kontrolle und Reaktionen bis hin zu Verurteilungen. Der Rechtsstaat wehrt sich.

Besteht zwischen Ihnen und dem Au▀enminister oder dem Bundeskanzler eine Diskrepanz in der EinschΣtzung der deutschen Menschenrechtspolitik?

Nein. Ich setze mitunter andere Akzente. Au▀enminister Kinkel unterstⁿtzt mich nachdrⁿcklich.

Bei dem Versuch, 1997 eine Resolution gegen China auf der Sitzung der Menschenrechtskommission durchzusetzen, hatte ich den Eindruck, da▀ Sie und vielleicht auch Klaus Kinkel einen EU-Antrag durchaus begrⁿ▀ten, wΣhrend der Kanzler das kategorisch ablehnte.

Ich habe zur Kennntnis nehmen mⁿssen, da▀ hier letztlich anders entschieden wurde. Schwierig war es in Genf vor allem, weil die Meinungsbildung innerhalb der EU sehr spΣt kam und die EuropΣer auseinanderfielen.

Gibt es denn schon eine Strategie fⁿr 1998 in dieser Frage?

Es gibt eine Strategie, zunΣchst die Kooperationsm÷glichkeiten auszuloten und die Entwicklung in China zu beobachten.

Aber die Frage einer China-Resolution ist noch nicht entschieden?

Nein.

Wie ist Ihr VerhΣltnis zu nichtstaatlichen Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international?

Sehr gut, wir haben einen stΣndigen Meinungsaustausch im "Forum Menschenrechte", aber auch mit einzelnen Organisationen. ─hnlich ist es mit den Organisationen in Genf und New York, wo ich noch im November einen intensiven Meinungsaustausch hatte.

Was ist denn effektiver: die Menschenrechtsarbeit der Nichtregierungsorganisationen oder die staatliche Politik?

Das sind ganz unterschiedliche Rollen. Die Bundesregierung mu▀ in der Menschenrechtskommission auch versuchen, Mehrheiten zu finden. amnesty international sagt, wir brauchen eine Resolution zu Kolumbien. Wir fragen uns, was kann man denn wirklich umsetzen und orientieren uns an den M÷glichkeiten. Die Nichtregierungsorganisationen k÷nnen ihre Meinung ohne irgendeinen Kompromi▀ vortragen. Wir haben zu Kolumbien eine wirkungsvolle Feldoperation etabliert - mit der Regierung und kolumbianischen Nichtregierungsoreganisationen. Das ist - in diesem Fall - besser als eine Resolution.

─rgert es Sie, wenn amnesty international die deutsche Menschenrechtspolitik kritisiert?

Das kann man nicht generell sagen. Manchmal Σrgert es mich, aber diese FΣlle sind selten. ai sollte aber die Schwierigkeiten nicht ⁿbersehen, denen wir bei der Umsetzung ausgesetzt sind.

Soll man bei Menschenrechtsverletzungen grundsΣtzlich an die ╓ffentlichkeit gehen, oder ist Ihrer Meinung nach manchmal "stille Diplomatie" der bessere Weg?

Wenn "stille Diplomatie" nicht Ausrede fⁿr Leisetreterei ist, dann bin ich dafⁿr. Es gibt solche FΣlle, in denen es sinnvoll ist. Aber ich wⁿrde Σu▀erst sparsam damit umgehen, weil es in der ╓ffentlichkeit nicht kontrolliert werden kann, was man getan hat. Im Normalfall mⁿssen bei Menschenrechtsverletzungen die Dinge beim Namen genannt werden: das ist der erste Schritt zur VerΣnderung. Wenn man heute nach Sⁿdafrika oder Osteuropa schaut, so wird man von den Menschen immer wieder auf die wichtige Rolle des offenen Wortes in den internationalen Gremien hingewiesen. Das war Hoffnung fⁿr sie.

Ist das bei China Σhnlich? Wie wird man in zehn Jahren ⁿber die deutsche oder europΣische China-Politik urteilen?

Ich wei▀ es nicht. Das ist eine Frage der Entwicklung des Landes. Unseren Einflu▀ sollten wir aber ausⁿben, um China immer wieder daran zu erinnern, da▀ es die internationalen Standards einhΣlt.

Ist die Menschenrechtspolitik ein Stiefkind in der deutschen Politik?

Nein, das wⁿrde ich nicht sagen.

Auch nicht in der Wahrnehmung?

Nein, auch nicht. Es ist v÷llig unvorstellbar, da▀ Kontakte, Staatsbesuche oder Wirtschaftsverhandlungen stattfinden, ohne da▀ die Menschenrechtskomponente eine Rolle spielt. Wenn man da an die Adenauer-Zeit zurⁿckdenkt, ist das ein gro▀er Fortschritt. Damals hat die Menschenrechtsfrage keine gro▀e Rolle gespielt. Wenn heute der BundesprΣsident einen Staatsbesuch antritt, informiert er sich sehr genau ⁿber die Menschenrechtslage. Das Thema ist nicht auszuklammern.

Trotzdem steht die Menschenrechtspolitik doch im Schatten der Wirtschaftspolitik.

Das sieht manchmal so aus. Die Beziehungen zwischen Staaten k÷nnen nicht davon abhΣngen, ob ein Land eine Demokratie ist oder nicht. Sonst k÷nnten wir ja unseren AuswΣrtigen Dienst um zwei Drittel verkleinern. Wir haben Wirtschaftsbeziehungen zu Staaten, von denen wir genau wissen, da▀ sie Menschenrechte verletzen, genauso wie wir frⁿher Beziehungen zum Ostblock hatten und sogar gef÷rdert haben, obwohl dort Menschenrechtsverletzungen stattfanden. Entscheidend ist doch, da▀ die Menschenrechte nicht untergebuttert werden aus Angst man mⁿsse dann wirtschaftliche Einbu▀en hinnehmen. Frieden, wirtschaftliche Entwicklung und Menschenrechte waren die wichtigsten Elemente des KSZE-Prozesses.

Bei Staatsbesuchen in China erscheint das Erinnern an die Menschenrechte oft als lΣstige Pflicht...

...es geht natⁿrlich sehr intensiv um Wirtschaftskontakte zu China. Es ist einer der gr÷▀ten sich entwickelnden MΣrkte der Welt. Das ist ⁿberhaupt keine Frage. Wichtig ist vor allem, da▀ bei gemeinsamen Projekten die daran beteiligten Personen keinen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind und wir uns mit unseren Prinzipien nicht verleugnen.

Von Helmut Schmidt wurde kⁿrzlich eine "ErklΣrung der Menschenpflichten" initiiert. Was halten Sie davon?

Ethisch-moralisch ist sie nicht zu beanstanden. Sie kann aber nicht mit der Allgemeinen ErklΣrung der Menschenrechte auf eine Stufe stehen, schon deshalb nicht, weil sich ethisch-moralische Forderungen an Individuen wenden, die Menschenrechte aber an Staaten. Ich glaube nicht, da▀ die UNO-Generalversammlung sie als Zwilling neben die MenschenrechtserklΣrung stellen wird. Ich sehe sogar eine gro▀e Gefahr darin, weil sich dann Regierungen darauf berufen k÷nnten, die Menschenrechtsverletzungen begehen und dann ihre Untertanen mit Appellen in die Pflicht und Verantwortung nehmen wollen fⁿr ihr Unrechtsregime. Die ErklΣrung kann mi▀brauht werden.

Wird dieser Text denn in den UNO-Gremien registriert und diskutiert?

Bisher so gut wie nicht.

Interview: Harald Gesterkamp

Letzte Aktualisierung dieser Seite: 10. Dezember 1997

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