Von diesen Garantien war die Wirklichkeit der fⁿnfziger Jahre natⁿrlich weit entfernt. Der Stalinismus herrschte, wenngleich in einer gemilderten Variante, auch in der DDR. Bis zum Bau der Mauer 1961 flohen deshalb nicht nur die Enteigneten, sondern auch jene Menschen, die keine Entfaltungsm÷glichkeiten sahen, massenhaft in den Westen.
Im Jahr 1968 gab eine neue, erstmals ausdrⁿcklich sozialistische Verfassung. Diese nahm weit weniger Rⁿcksicht auf internationale Menschenrechtsstandards. Politische Rechte galten nur, wenn ihre Ausⁿbung der Meinung der Partei entsprach - also gar nicht. Statt dessen wurden au▀er dem Sozialismus auch das "unwiderrufliche" Bⁿndnis mit der Sowjetunion oder der Wehrdienst in der Verfassung festgeschrieben. Eigentum war nur als gesellschaftliches oder pers÷nliches - also nicht in der Wirtschaft einsetzbares - Eigentum erwΣhnt und garantiert.
Wie weit sich in der DDR nicht nur die Wirklichkeit, sondern auch Verfassung, Gesetze, SelbstverstΣndnis und Erwartungen von Demokratie und Menschenrechten entfernt hatten, zeigt die Bedeutung, die die Schlu▀akte von Helsinki seit 1975 erlangte. Nichts in der KSZE-ErklΣrung war inhaltlich neu, mi▀t man es an den historisch gewachsenen Standards, wie sie 1948 in der UNO-ErklΣrung und 1966 in den Internationalen Pakten festgeschrieben waren. Die DDR, die im Zuge ihrer internationalen Anerkennung 1973 auch UNO-Mitglied wurde, hatte beide Konventionen unterzeichnet. Dennoch wurde vor allem die Helsinki-Schlu▀akte zum Bezugspunkt vieler Hoffnungen.
Die Entspannungspolitik ermutigte all jene, die unter der Verweigerung der Menschenrechte litten, zu deutlicheren Forderungen unter Berufung auf die von der DDR offiziell vertretenen KSZE-Leitlinien. Ein ⁿbriges taten in den siebziger Jahren der Eurokommunismus, in den achtzigern Perestroika und Glasnost. Sie weckten nicht nur Hoffnungen auf Liberalisierung, sondern boten auch Legitimationen fⁿr abweichende Meinungen. Die SED geriet in ErklΣrungsnot, die bis zum Ende der DDR immer gr÷▀er wurde.
Sie reagierte mit den ⁿblichen Argumenten: Die Menschenrechte seien nicht nur politische, sondern ebenso auch soziale und wirtschaftliche Rechte. In der DDR gebe es weder Armut noch Arbeitslosigkeit, vielmehr stⁿnden das Recht auf Arbeit und auf Wohnung sogar in der Verfassung. Die sozialistische DDR mⁿsse sich vor ihren Feinden schⁿtzen, innere Sicherheit und Abwehr von Verfassungsfeinden seien das Recht jedes Staates. Wer die DDR kritisiere, mische sich in ihre inneren Angelegenheiten ein und greife ihre staatliche SouverΣnitΣt an - dies verletze internationales Recht. Das letzte Argument war speziell an die internationale ╓ffentlichkeit gerichtet, alle anderen ebenso an die eigene Bev÷lkerung.
In dieser wuchsen jedoch Zweifel und Verzweiflung. Der Widerstand nahm in dem Ma▀e zu, in dem die SED ihr System der totalen Kontrolle perfektionierte und buchstΣblich jede abweichende oder auch nur authentische LebensΣu▀erung als Angriff gegen sich und den Sozialismus verstand und behandelte. Diesem Bild steht nicht entgegen, da▀ sich im Laufe der achtziger Jahre - teils aus SchwΣche, teils als eine spezifische Form repressiver Toleranz - ein Zug zum Laisser-faire bemerkbar machte. Nach der brutalen stalinistischen Form der Unterwerfung und langer Praxis hatte die Diktatur eine vergleichsweise subtile Form gefunden. Inzwischen erzeugte schon die Andeutung von Drohung in der zerst÷rten Gesellschaft hinreichende Abschreckungswirkung.
Im Gro▀en und Ganzen lassen sich - zumindest fⁿr die letzten zwanzig Jahre der DDR - drei Gruppen von Menschen unterscheiden, die sich mit der Verweigerung der Menschenrechte konfrontiert sahen. Da waren einmal jene, die den Sozialismus verbessern wollten. Sie litten darunter, da▀ die Erstarrung in der Partei jede Reform blockierte. Fⁿr sie waren weniger die Menschenrechte der Bezugspunkt als die Gorbatschowschen Reformen. ╓ffentlichkeit, so glaubten sie, schadete ihren Reformbestrebungen eher. Parteiintern bewirkten sie bekanntlich nichts.
Dann gab es - als mit Abstand gr÷▀te Gruppe - jene, denen DDR und Sozialismus egal waren, weil sie jede Hoffnung auf VerΣnderung aufgegeben hatten. Sie wollten neu anfangen, und das ging nach Lage der Dinge nur im Westen. Sie formulierten per Antrag, auf Demonstrationen und bisweilen in verzweifelten Aktionen die Forderung nach Reisefreiheit. Diese Forderung war Metapher fⁿr weit mehr: das Recht auf Entwicklung, auf Entfaltung der Pers÷nlichkeit, auf Bewegungs- und Meinungsfreiheit. Sicherlich spielten auch die Konsum-Verlockungen der Bundesrepublik eine Rolle. Aber nicht Hunger oder Arbeitslosigkeit machten die DDR zum gr÷▀ten Auswanderungsland Europas nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern die Unterdrⁿckung der Menschenrechte.
Schlie▀lich gab es die Gruppe jener, die sich selbst mit wachsendem Bewu▀tsein als Opposition verstanden. Im Unterschied zu den "Antragstellern" wollten sie nicht das Land verlassen, sondern die DDR verΣndern. Ihr Konsens untereinander, unabhΣngig von jeweiligen inhaltlichen Schwerpunkten - ╓kologie, Frauenrechte, Abrⁿstung, Wehrdienstverweigerung, Dritte Welt oder auch der wahre Sozialismus - und mit denen, die das Land verlassen wollten, war die Forderung nach der Grundvoraussetzung jedes gesellschaftlichen Diskurses: die Verwirklichung der Menschenrechte.
Jede der vielen kirchlichen oder unabhΣngigen Gruppen scheiterte mit ihrem Thema sofort daran, da▀ es au▀erhalb der Kirche keine legale ÷ffentliche Artikulationsm÷glichkeit gab, keine ÷ffentliche Diskussion, keine legale Zugangsm÷glichkeit zu Informationen, keine M÷glichkeit, sich legal zu organisieren. Dieser Konsens brauchte nicht formuliert zu werden, er war selbstverstΣndlich. Augenscheinlich wurde die SolidaritΣt bei AnlΣssen wie dem ▄berfall der Stasi auf die Umweltbibliothek in Berlin 1987 oder bei den Verhaftungen Anfang 1988.
Natⁿrlich gab es im Laufe der DDR-Geschichte immer Menschen, die sich ausdrⁿcklich auf die Menschenrechte beriefen und daraus Forderungen ableiteten. Aber erst der Helsinki-Proze▀ rⁿckte den Begriff ins Zentrum politischer Auseinandersetzung, verstΣrkt durch das Beispiel der Charta 77 in der Tschechoslowakei und die Schwerpunktsetzung des amerikanischen PrΣsidenten Jimmy Carter zur gleichen Zeit. Die Friedensbewegung in der DDR konnte nicht mehr zerschlagen werden. Aus ihr gingen Mitte der achtziger Jahre unter anderem auch AnfΣnge einer Menschenrechtsbewegung hervor, zum Beispiel die 1987 gegrⁿndete Leipziger "Arbeitsgruppe Menschenrechte", die Berliner Gruppe "Initiative Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung" sowie die "Initiative Frieden und Menschenrechte" von 1986. Die Menschenrechtsgruppen trugen trotz ihrer geringen Zahl - die Stasi zΣhlte 1988 DDR-weit zehn - erheblich zur Politisierung der Opposition und zur Bildung der Bⁿrgerbewegungen 1989 bis hin zur spΣteren Grⁿndung des Bⁿndnis 90 bei.
Exemplarisch fⁿr diese Orientierung ist die "Initiative Frieden und Menschenrechte" (IFM). Entstanden in Reaktion auf die Anpassung der Amtskirche an die staatliche Politik, formulierte sie ihre PrΣmissen: Frieden und Menschenrechte sind untrennbar verbunden. Zum Frieden geh÷rt auch der innerstaatliche, der ohne Garantie der Menschenrechte nicht m÷glich ist. Deshalb mⁿssen demokratische Rechte gefordert werden. Solange diese Rechte nicht legal sind, gilt das Prinzip der LegitimitΣt - sie wahrzunehmen hei▀t, legitim zu handeln. Danach agierten die IFM-Mitglieder: In der Folge wurden einige von ihnen Anfang 1988 verhaftet und in den Westen zwangsexiliert.
Zu den Lehren aus der Geschichte der DDR und ihrem Ende geh÷rt sicher die Erkenntnis, da▀ ohne die Respektierung der Menschenrechte in ihrer Gesamtheit nicht nur der Staat auf Dauer - politisch wie ÷konomisch - nicht ⁿberleben kann, sondern die Gesellschaft als Ganzes keine Entfaltungsm÷glichkeit hat. Deshalb sind die Menschenrechte kein Luxus fⁿr reiche LΣnder, sondern unerlΣ▀lich fⁿr jeden Staat.
Reinhard Wei▀huhn
Der Autor, heute wissenschaftlicher Mitarbeiter fⁿr Bⁿndnis 90/Die Grⁿnen im Bundestag, war seit Mitte der 70er Jahre oppositionell in der DDR aktiv und Mitglied der "Initiative Frieden und Menschenrechte".
Letzte Aktualisierung dieser Seite: 10. Dezember 1997 |