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amnesty international: Jahresbericht 1997

Schweiz (Schweizerische Eidgenossenschaft)

Berichtszeitraum: 1. Januar 1996 - 31. Dezember 1996

amnesty international erhielt erneut von Vorwürfen über Mißhandlungen durch die Polizei Kenntnis.

Das Europäische Anti-Folter-Komitee, das auf der Grundlage des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe tätig ist, hielt sich im Februar in der Schweiz auf, um zu überprüfen, inwieweit den von ihm nach einem Besuch im Jahre 1991 geäußerten Beanstandungen und Empfehlungen Rechnung getragen worden ist (siehe Jahresbericht 1994). Darüber hinaus führte das Komitee in Hafteinrichtungen der Kantone Bern, Genf, Tessin, Waadt, Wallis und Zürich Inspektionsbesuche durch, um sich ein Bild von der Behandlung der dort inhaftierten Personen zu machen. Die Schweizer Regierung ließ ihre Bereitschaft erkennen, den Bericht des Komitees zusammen mit ihrer Stellungnahme zu den darin enthaltenen Aussagen im März 1997 zu veröffentlichen.

Im Oktober befaßte sich der UN-Menschenrechtsausschuß mit dem ersten Bericht der Schweizer Regierung über die von ihr zur Umsetzung des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte getroffenen Maßnahmen. Der Ausschuß nahm zu mehreren konkreten Punkten kritisch Stellung. Er zeigte sich unter anderem besorgt über die »zahlreichen« Vorwürfe über polizeiliche Mißhandlungen, denen insbesondere ausländische Staatsbürger bei ihrer Festnahme und in der Anfangsphase ihrer Haft ausgesetzt seien. Der Ausschuß beanstandete ferner die nur unzulänglichen Ermittlungen zur Aufklärung von Mißhandlungsvorwürfen und das Ausbleiben angemessener Strafen gegen die für solche menschenrechtsverletzenden Praktiken Verantwortlichen.

In seinen Empfehlungen an den Bundesrat regte der Ausschuß an, eine vertiefte Debatte über eine Harmonisierung der Strafprozeßordnungen der 26 Kantone zu führen und insbesondere sicherzustellen, daß darin die Grundrechte inhaftierter Personen garantiert sind. Die Ausschußmitglieder betonten die Notwendigkeit für alle Kantone, unter Straftatverdacht festgenommenen Menschen das Recht zu gewähren, unmittelbar nach ihrer Verhaftung Kontakt zu einem Anwalt und ihren Familien aufnehmen zu können, sowie ihnen die Möglichkeit einzuräumen, sich nach der Festnahme, bei Beendigung der Verhöre, vor ihrer richterlichen Vorführung und bei ihrer Freilassung von einem unabhängigen Arzt untersuchen zu lassen. Eine weitere Empfehlung des Ausschusses an die Schweizer Kantonalbehörden lautete, eine unabhängige und gegenüber der Öffentlichkeit rechenschaftspflichtige Beschwerdeinstanz zur Überprüfung von Vorwürfen über polizeiliche Mißhandlungen zu schaffen.

Im Oktober trat ein Gesetz in Kraft, mit dem für Militärdienstverweigerer aus Gewissensgründen erstmals eine wirkliche zivile Alternative zum Dienst an der Waffe eingeführt wurde. Der Ersatzdienst, dessen Dauer auf das Eineinhalbfache des Militärdienstes festgelegt wurde, steht seitdem allen Wehrpflichtigen zur Verfügung, die vor einem zivilen Ausschuß glaubhaft darlegen können, daß für sie ein Dienst an der Waffe mit ihrem Gewissen unvereinbar ist.

Bis zum Inkrafttreten des neuen Gesetzes im Oktober galt Militärdienstverweigerung als Straftatbestand, der mit Freiheitsentzug oder der Ableistung eines Arbeitsdienstes im öffentlichen Interesse geahndet werden konnte. Im Berichtszeitraum erhielt amnesty international allerdings nur vereinzelt davon Kenntnis, daß Militärdienstverweigerer zu Haftstrafen verurteilt worden waren oder ihre Strafe antreten mußten. Dies war darauf zurückzuführen, daß die Möglichkeit bestand, bereits anhängige Strafverfahren auszusetzen, um den angeklagten Militärdienstverweigerern Gelegenheit zu geben, auf der Grundlage der neuen gesetzlichen Regelungen die Ableistung eines Zivildienstes zu beantragen.

Es trafen erneut Berichte über Mißhandlungen durch die Ordnungskräfte ein, wobei es sich bei den mutmaßlichen Opfern oftmals um ausländische Staatsangehörige handelte. Im Januar beispielsweise erhob A. S., ein Asylbewerber aus der jugoslawischen Provinz Kosovo, den Vorwurf, nach seiner Festnahme im Dezember 1995 auf einer Polizeiwache in Lugano von fünf Polizisten ins Gesicht geschlagen, mit Fausthieben und Fußtritten traktiert und mit dem Kopf gegen einen Tisch gestoßen worden zu sein. Er gab an, in den 30 Stunden seiner Haft sei ihm jede medizinische Versorgung vorenthalten worden. Als man ihn freiließ, suchte A. S. ein örtliches Krankenhaus auf, wo Ärzte schwere Hämatome an einem seiner Beine, Blutergüsse und Schwellungen am rechten Arm sowie ausgeprägte Verletzungen im Bereich des rechten Auges diagnostizierten. Außerdem stellten sie bei dem Patienten Blut im Urin fest. A. S. machte ferner geltend, nach Beendigung der Verhöre von Beamten der Polizeiwache aufgefordert worden zu sein, zwei in italienischer Sprache abgefaßte Dokumente zu unterschreiben. Er erklärte, dies anfänglich abgelehnt zu haben, weil er des Italienischen nicht mächtig sei. Als man ihn daraufhin mit Schlägen ins Gesicht mißhandelte, habe er seine Unterschrift unter das erste Dokument gegeben. Das zweite sei von ihm unterzeichnet worden, weil die Beamten davon seine Freilassung abhängig gemacht hätten. Bei dem zweiten Dokument handelte es sich offenbar um eine Mitteilung an das Bundesamt für Flüchtlinge, in der es hieß, A. S. ziehe seinen Asylantrag zurück. Der Vorfall führte zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens.

Auch die von Ali Doymaz und Abuzer Tastan im Juni 1995 eingereichte Strafanzeige, in der sie die Polizei der Mißhandlung beschuldigt hatten (siehe Jahresbericht 1996), war laut Auskunft offizieller Stellen Gegenstand von Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft Tessin. Bei Jahresende dauerten die Untersuchungen noch an. Die beiden Beschwerdeführer waren weiterhin nicht zu ihren Vorwürfen einvernommen worden.

Mehrere von der Justiz eingeleitete Verfahren zur Aufklärung von Vorwürfen über polizeiliche Mißhandlungen schienen verzögert worden zu sein. So dauerte es ganze zweieinhalb Jahre, bis im Juni drei Beamte der Stadtpolizei Zürich, gegen die der iranische Flüchtling M. F. bereits im Dezember 1993 Anzeige erstattet hatte, unter der Anklage des Amtsmißbrauchs und der Körperverletzung vor Gericht gebracht wurden. Der Iraner war im Zuge einer Drogenrazzia festgenommen worden und hatte sich nach seiner Freilassung im Krankenhaus in ärztliche Behandlung begeben müssen. Ein Richter des Bezirksgerichts Zürich gelangte zu der Feststellung, einer oder sogar mehrere der Polizeibeamten hätten »ungerechtfertigte« und »übertriebene« Gewalt angewandt, als sie M. F. mit Fußtritten traktierten. Dennoch sprach er alle drei Angeklagten frei, da er sich nicht in der Lage sah, eindeutig zu klären, welcher der Polizisten dem Iraner die Fußtritte versetzt hatte.

Das Obergericht des Kantons Zürich entschied im März in letzter Instanz, daß die von Hassan L. im Februar 1995 erlittenen Verletzungen (siehe Jahresbericht 1996) sämtlich auf ein gewalttätiges Handgemenge mit der Polizei während der Festnahme sowie auf einen Sturz des zum damaligen Zeitpunkt alkoholisierten Mannes in der Zelle der Polizeiwache zurückzuführen sind. Das Gericht schloß zwar die Möglichkeit, daß Hassan L. im Inneren der Polizeistation mißhandelt worden sein könnte, nicht vollständig aus, hielt jedoch einen solchen Vorwurf nicht für beweiskräftig genug begründet, um einen der beschuldigten Polizisten zu verurteilen.

Im April stimmte das Genfer Kantonsparlament einer Gesetzesreform zu, mit der bestehende Garantien zum Schutz inhaftierter Personen vor Mißhandlungen im Gewahrsam der Polizei gestärkt und Polizeibeamte vor haltlosen Mißhandlungsvorwürfen besser geschützt werden sollen. Vermutlich werden die Stimmberechtigten des Kantons Genf 1997 in einem Referendum über die Reformvorschläge abstimmen. Im Berichtszeitraum erhielt amnesty international erneut von Meldungen über Mißhandlungen durch die Genfer Polizei Kenntnis. Im Februar wurde Marc Guerrero, der sich eines Handtaschenraubes schuldig gemacht hatte, von Polizisten in Genf verfolgt und festgenommen. Im März reichte er sowohl bei der Polizeibehörde als auch der Staatsanwaltschaft von Genf Beschwerde ein, in der er geltend machte, die Beamten hätten, nachdem er sich bereits gestellt hatte, vorsätzlich einen Polizeihund auf ihn gehetzt, von dem er am linken Bein und an der Schulter gebissen worden sei. Insbesondere an der Schulter zog er sich dabei derart schwere Verletzungen zu, daß ein chirurgischer Eingriff notwendig wurde. Marc Guerrero gab ferner an, von den Polizisten mißhandelt und von einem der Beamten mit dessen Waffe auf den Kopf geschlagen worden zu sein. In seiner Beschwerde führte er des weiteren aus, man habe ihm mit vollem Vorsatz mehrere Stunden lang medizinische Versorgung vorenthalten, obwohl er die Polizisten von seiner Diabeteserkrankung in Kenntnis gesetzt habe. Auch dem Rat einer Ärztin, die auf seinen dringenden Wunsch hin nach rund einer Stunde gerufen worden sei und seine sofortige Verlegung in ein Krankenhaus empfohlen habe, sei nicht gefolgt worden. Marc Guerrero untermauerte seine Beschwerde durch ein medizinisches Attest, ausgestellt vom Kantonsspital, in das man ihn schließlich doch noch eingeliefert hatte. In dem Attest heißt es, die Verletzungen, die der Patient davongetragen habe, stimmten mit seinem Vorwurf, von einem Hund angegriffen und mit einer Pistole geschlagen worden zu sein, durchaus überein.

Im Oktober erklärte der Polizeichef von Genf, die Justiz habe Ermittlungen zur Aufklärung des Vorfalles eingeleitet. Zugleich betonte er, daß die beschuldigten Polizisten sämtliche Vorwürfe vehement bestritten hätten und vom ersten Anschein her nichts darauf hindeute, daß mit dem Einsatz des Polizeihundes gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verstoßen worden sei.

amnesty international begrüßte die Einführung einer wirklichen zivilen Alternative zum Militärdienst und versuchte, sich ein Bild von der praktischen Umsetzung des neuen Zivildienstgesetzes zu verschaffen. Die Organisation brachte gegenüber den Behörden Vorwürfe über Mißhandlungen zur Sprache und bat um Informationen über den Fortgang und die Ergebnisse entsprechender Ermittlungen. Im Oktober sicherte die Schweizer Regierung dem UN-Menschenrechtsausschuß zu, in ihrer Stellungnahme zum Bericht des Europäischen Anti-Folter-Komitees auf die sowohl vom Komitee selbst als auch von nichtstaatlichen Organisationen angeprangerten Mißstände eingehen zu wollen.
Letzte Aktualisierung dieser Seite: 28. August 1997

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