Titel-Kogruppe

Kinderbewegungen in Lateinamerika

Prof. Dr. Manfred Liebel, TU Berlin

Beitrag zur Ringvorlesung am 8.1.1997 an der Universität Wien

"Perspektiven von Recht und Entwicklung in Lateinamerika. Aktuelle Debatte zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte"

  1. Grundzüge der Kinderbewegungen
  2. Bedeutung der Kinderrechte in den Kinderbewegungen
  3. Kinderfragen zur Kinderrechtsdebatte
  4. Erstes Beispiel
  5. Zweites Beispiel
  6. Drittes Beispiel
  7. Schlußfolgerungen

Als 1978 in Peru mit dem Movimiento de Adolescentes y Niños Trabajadores Hijos de Obreros Cristianos (MANTHOC) die erste Kinderbewegung Lateinamerikas entstand, waren Kinderrechte kaum ein Thema. Zwar wurden in mehreren Ländern unter dem Eindruck der repressiven Praktiken der Militär-Diktaturen vehement die Menschenrechte reklamiert, wie z.B. in Argentinien von den Müttern der Plaza de Mayo. Aber Kinder zählten noch nicht als Subjekte mit eigenen Rechten. Das sollte sich erst Mitte der 80er Jahre ändern.

Die zweite Kinderbewegung entstand unter dem Namen Movimento Nacional de Meninos e Meninas da Rua (MNMMR) 1985 in Brasilien. Die Bewegung klagt die aus der Zeit des Militär-Regimes überlieferte Unterdrückungs- und Mordpraxis an den Straßenkindern an und insistiert auf dem Recht der Kinder, zu leben und als BürgerInnen respektiert zu werden.

In den Jahren danach bildeten sich Kinderbewegungen auch in anderen Ländern Lateinamerikas, vor allem in Ländern des andinen Raums und in Zentralamerika. Zwischen den Bewegungen kommt es seit 1988 zu internationalen Vernetzungen. Spätestens seit der Verabschiedung der Internationalen Konvention über die Rechte des Kindes im Jahr 1989 berufen sich alle Bewegungen mit unterschiedlichen Akzentuierungen auf die dort verankerten Kinderrechte, reklamieren aber auch Rechte, die in der Konvention nicht enthalten sind, oder sie stellen infrage, wie UNICEF, Regierungen und NGO's die Konvention auslegen und mit ihr in der Praxis umgehen.

Grundzüge der Kinderbewegungen

Kinderbewegungen im hier verstandenen Sinne sind soziale Bewegungen, bei denen die Kinder selbst den Ton angeben und das letzte Wort haben. Im Falle von Gruppen oder Initiativen von Personen, die sich für die Rechte von Kindern einsetzen, sollte nicht von Kinderbewegungen, sondern von Kinderrechtsbewegungen gesprochen werden. Es handelt sich auch nicht um Kinderbewegungen, wenn Kindern in pädagogischer Absicht Einflußbereiche eingeräumt werden (z.B. Schülermitbestimmung in der Schule) oder Kinder zeitweilig mobilisiert werden, um ihrer Stimme mehr Beachtung zu verschaffen (z.B. Kindergipfel, Kinderparlamente). Von Kinderbewegung läßt sich erst dann sprechen, wenn Kinder in gemeinsamer Anstrengung und Verantwortung eigene Ziele artikulieren, und selbstbestimmte Normensysteme und Strukturen schaffen.

In der Diskussion über die Kinderbewegungen wird in Lateinamerika zwischen den spontanen Formen der Selbstorganisation der Kinder an ihren Lebens- und Arbeitsorten und Organisationsformen unterschieden, die über landesweit angelegte Strukturen verfügen. Während erstere sich in der Regel auf eigene Initiative der Kinder und mitunter in Auseinandersetzung mit skeptischen bis feindlichen Erwachsenengruppen entwickeln, geht bei der zweiten Form der Kinderbewegung die Initiative oft von Erwachsenen oder Jugendlichen aus, die sich für die Rechte und Belange der Kinder einsetzen. In Nicaragua z.B. ging die "Bewegung der arbeitenden Kinder (Movimiento de Niños, Niñas y Adolescentes Trabajodores - NATRAS) aus einer von ErzieherInnen ins Leben gerufenen "Solidaritätsbewegung für die Rechte der Straßenkinder" hervor.

Die Mitwirkung von Erwachsenen steht zum Autonomieanspruch der Kinderbewegungen nicht notwendigerweise in Widerspruch. Aufgrund des marginalen Status der Kinder und ihrer geringen sozialen Anerkennung als handlungs- und organisationsfähige Subjekte ist die Unterstützung von Erwachsenen oder Jugendlichen in der Regel sogar unvermeidlich und wird oft auch von den Kindern selbst gewünscht. Zu beachten ist allerdings, daß die Erwachsenen nicht leitende, sondern beratende Funktionen wahrnehmen und die Kinder in jeder Hinsicht bei der selbständigen Artikulation und Organisierung ihrer Interessen und Rechte respektieren und unterstützen. In diesem Sinne hat sich im Kontext der lateinamerikanischen Kinderbewegungen eingebürgt, von facilitadores (Erleichterer, Vermittler) oder colaboradores (Mitarbeiter) zu sprechen.

Die Akteure der Kinderbewegungen Lateinamerikas sind zwischen 10 und 16 Jahren und besitzen einige aufschlußreiche Gemeinsamkeiten. Es handelt sich nicht, wie aus westeuropäischer Perspektive anzunehmen wäre, um Kinder aus priviligierten Bildungs- und Sozialschichten, sondern um "Kinder in besonderen schwierigen Lebensumständen" (UNICEF). Sie leben großenteils in extremer Armut und sind in den Überlebenskampf involviert, d.h. sie müssen nach landläufiger Vorstellung schon früh "Erwachsenenrollen" übernehmen. Um ihr Überleben und das ihrer Familien zu sichern, müssen sie unter meist entwürdigenden Bedingungen arbeiten. Der überwiegende Teil der in den Kinderbewegungen aktiven Kinder arbeitet in der sog. informellen Ökonomie, auf der Straße, auf Märkten und anderen öffentlichen Plätzen der großen Städte, weshalb sie auch als "Straßenkinder" bezeichnet werden. Von der Verwirklichung der Kinderrechte sind sie besonders weit entfernt.

Zur Frage, wie die Kinder zu Akteuren sozialer Bewegungen werden, stehen sich im wesentlichen zwei Positionen gegenüber. Die eine Position identifiziert die Kinder als Straßenkinder und stellt ihre meist negativen Erfahrungen auf der Straße in den Mittelpunkt. Sie nimmt an, daß mittels Aufklärung der Kinder über ihre Rechte und einer solidarischen pädagogischen Gruppenarbeit von Straßenerziehern (educadores de calle, street-worker) die Straßenerfahrungen zur Handlungsprovokation werden und die Kinder veranlassen, sich in Gruppen zur Verteidigung ihrer Rechte und Interessen zu organisieren. Diese Position ist vor allem in Brasilien verbreitet und spielt in der dortigen Nationalen Bewegung der Straßenkinder eine wesentliche Rolle.

Die andere Position identifiziert die Kinder als arbeitende Kinder und sieht in der Arbeitserfahrung trotz negativer Rahmenbedingungen eine positive Basis ihrer sozialen Identität. Sie geht davon aus, daß die Kinder mit der Übernahme ökonomischer und sozialer Verantwortung eher als andere Kinder Fähigkeiten zur autonomen Gestaltung ihres Lebens sowie ein Bewußtsein über ihre Bedeutung und ihre Rechte in der Gesellschaft entwickeln. Diese Position gewinnt vor allem in Peru, Bolivien, Kolumbien, Mexiko und den zentralamerikanischen Ländern an Einfluß.

Beide Positionen sind sich darin einig, daß die Kinder nicht nur das Recht, sondern auch die virtuelle Fähigkeit besitzen, als soziale Subjekte zu agieren und eine Protagonistenrolle in der Gesellschaft wahrzunehmen. Hierzu erscheint es unabdingbar, daß die Kinder ihre Interessen selbst in die Hand nehmen und sich auf autonome Weise, d.h. unabhängig von Erwachsenen und den von ihnen dominierten Institutionen und Ideologien organisieren können.

Bedeutung der Kinderrechte in den Kinderbewegungen

In der Praxis der Kinderbewegungen spielt heute der Rekurs auf die Kinderrechte eine wichtige Rolle. Er ist aber nur ein Aspekt unter anderen. Ihre Bewegung verstehen die Kinder nicht nur als Instrument, mit dem sie gegenüber den Erwachsenen und den von ihnen dominierten Institutionen mehr Einfluß gewinnen können, sondern auch und vielleicht in erster Linie einen sozialen Raum, in dem sie neue Erfahrungen machen und sich gegenseitig helfen können. In der Alltagspraxis der Kinderbewegungen haben Begegnungen und Treffen eine wesentliche Bedeutung. Hier sehen sie die beste Möglichkeit, sich besser kennenzulernen, offen miteinander zu reden, ihre Erfahrungen miteinander zu teilen, Spaß zu haben und Freundschaften zu schließen.

Die Kinderbewegungen lassen sich verstehen als eine Art Erlebnisgemeinschaften, bei denen die Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten ihrer Lebenssituation eng mit spielerischen und kulturellen Ausdrucksformen verwoben ist. Die soziale Atmosphäre und die Kommunikationsformen zeigen viel Spontaneität und Kreativität und setzen oft Ideen, Wünsche und Forderungen frei, die unter den im Alltag der Kinder herrschenden Bedingungen schwerlich hätten entstehen können.

Zu den Grundelementen im Selbstverständnis der sich organisierenden Kinder gehört der Anspruch respektiert zu werden und sich gegenseitig zu respektieren. Der Anspruch auf Respekt gründet in dem Bewußtsein über die eigene wirtschaftliche Rolle in der Gesellschaft (als Mit- oder gar AlleinernährerInnen ihrer Familien) und rekurriert zunehmend häufig auch auf die den Kindern in offiziellen Dokumenten und Verlautbarungen attestierten Rechte.

Seit der Verabschiedung der internationalen Konvention über die Rechte des Kindes und ihrer Propagierung durch Kinderrechtsgruppen und NGO's ist es in den Kinderbewegungen üblich geworden, sich auf die "eigenen Rechte" zu berufen. Mit der Anerkennung der Kinder als eigenständige Rechts-Subjekte hat die Konvention dazu beigetragen, daß die Kinder sich als soziale Gruppe verstehen und sich eher "im Recht" sehen. Die Kinderbewegungen greifen die Rechte auf, die einen Bezug zu ihrer Realität haben. Das heißt, sie fragen sehr konkret, welche Rechte ihnen nützlich sind und was getan wird, um sie praktisch werden zu lassen. Die Kinder haben ein feines Gespür für Sonntagsreden, in denen der Verweis auf die Kinderrechte nur dazu dient, die "Sorge um die Kinder" zu demonstrieren, ohne daß daraus Taten folgen. Sie wollen sich nicht als Alibi instrumentalisieren lassen.

Zunächst stehen die Kinder allem was mit Recht und Gesetz zu tun hat, skeptisch gegenüber oder zeigen wenig Interesse daran. Die Rechts-Sphäre ist eine Domäne der Erwachsenen. Kinder können weder Gesetze machen noch Recht sprechen, denn die politischen Rechte als BürgerInnen, die hierzu die Voraussetzung bilden, werden ihnen bis heute vorenthalten. Auch die Kinderrechts-Konvention ist ohne nennenswerte Beteiligung von Kindern entstanden, sie ist ein Dokument von Erwachsenen für Kinder. daran ändert nicht viel, wenn versucht wird, das juristische Vokabular in eine vermeintlich kindgerechte Sprache zu "übersetzen".

Daß die Kinder eigene Rechte haben, daß sie "Subjekt von Rechten" sind, und ihre Lage auf dem "Rechtsweg" zu bessern sei, auf diese Idee sind Erwachsene gekommen und konnten vermutlich auch nur Erwachsene kommen. Das Denken und Sprechen in Rechtskategorien wurde von Erwachsenen in die Kinderbewegungen hineingetragen, vor allem denen, die sich als ErzieherInnen für die Kinder verantwortlich fühlen und deren Situation in der Regel gut kennen. Sie haben die Kinder gleichsam überzeugt, daß es für sie durchaus von Nutzen sein kann, sich auf Rechte zu berufen.

Die Berufung auf die Kinderrechte geht in einigen Kinderbewegungen inzwischen so weit, daß sie auf Mitsprache bei der Ausarbeitung von Gesetzen pochen und mitunter sogar in die Gesetzgebung eingreifen. Das Kinder- und Jugendstatut, das 1990 in Brasilien beschlossen wurde, wäre ohne die Mobilisierung der Straßenkinderbewegung vermutlich so nicht zustande gekommen. Im Gegensatz zum alten Gesetz, das die Kinder und Jugendlichen als bloße Objekte staatlicher Maßnahmen verstand, werden ihnen im neuen Statut eine Reihe von bürgerlichen und sozialen Rechte attestiert. So heißt es z.B.: "Kein Kind oder Jugendlicher wird irgend einer Form von Vernachlässigung, Diskriminierung, Ausbeutung, Gewalt, Grausamkeit und Unterdrückung unterworfen, jeder Anschlag auf seine Grundrechte, sei es durch Unterlassen oder durch die Tat, wird gemäß dem Gesetz bestraft". An anderer Stelle: "Es ist die Pflicht der Familie, der Gemeinde, der Gesellschaft im allgemeinen und der Staatsgewalt, mit absolutem Vorrang die Einhaltung der Rechte zu garantieren, die Leben, Gesundheit, Ernährung, Erziehung, Sport, Freizeit, Berufsbildung, Kultur, Würde, Respekt, Freiheit sowie Zusammenleben in Familie und Gemeinschaft betreffen".

In Peru setzte sich die MANTHOC-Kinderbewgung dafür ein, im neuen Kinder- und Jugendgesetz die arbeitenden Kinder mit ökonomischen Rechten auszustatten, um sie aus ihrer rechtlosen Lage zu befreien und ihnen mehr Einfluß auf die Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. Tatsächlich bricht das 1992 erlassene Dekret über die Rechte der Kinder mit der überkommenen Doktrin, die Kinder mittels Arbeits-Verbot schützen zu wollen und räumt zumindest den Kindern ab 12 Jahren das "Recht zu Arbeiten" ein, sofern die Arbeitstätigkeit "keine Gefahr für ihre Entwicklung, für ihre physische, geistige und emotionale Gesundheit bedeutet und ihren regelmäßigen Schulbesuch nicht beeinträchtigt". In dem Gesetzes-Dekret regelt ein besonderes Kapitel die Rechte der arbeitenden Kinder, wie z.B. das Recht, Arbeitsverträge abzuschließen und sich in Vereinigungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen zusammenzuschließen. Die Unternehmer werden verpflichtet, den Kindern an ihren Arbeitsplätzen Bedingungen zu garantieren, die weder ihre Menschenwürde noch ihren Bildungsprozeß beeinträchtigen. das Gesetzes-Dekret beschränkt sich nicht auf die Kinder in Lohnarbeit, sondern bezieht alle Formen und Orte der Arbeit von Kindern ein.

Auch in anderen Ländern haben die Kinderbewegungen gelegentlich Einfluß auf die nationale Gesetzgebung auszuüben versucht, doch handelte es sich dabei um eher sporadische Initiativen, die bislang auch noch wenig Erfolge mit sich brachten. Sehr wohl haben die Kinderbewegungen aber den Diskurs vieler NGO's beeinflußt, die heute weitaus stärker als noch vor 5, 6 Jahren Partizipation der Kinder bei allen sie betreffenden politischen Entscheidungen das Wort reden.

So verpflichteten sich beispielsweise NGO's der Länder Zentralamerikas, Mexicos und Panamas auf einer Konferenz, die im März 1993 in Guatemala stattfand, "die Handlungsräume (zu) nutzen, die sie in ihrer Arbeit mit Familien, Schule, kommunalen Aktionsgruppen und den Medien haben" und "die Hindernisse (zu) überwinden, um eine wirkliche Partizipation der Kinder in allen sie betreffenden Angelegenheiten sicherzustellen", und schlagen vor, "die eigene Organisation der Kinder zu fördern".

Die Kinderbewegungen sind selbst ein Stück gelebte Partizipation. Soweit sie sich auf die den Kindern zugebilligten Rechte beziehen, erwarten sie, daß die Regierungen, NGO's und internationale Organisationen wie UNICEF sich nicht auf Glanzbroschüren und kinderfreundliche Worte beschränken, sondern die Rechte auch Wirklichkeit werden lassen. Aber sie apellieren nicht nur und verlassen sich nicht nur auf den Schutz der Erwachsenen, sondern nehmen ihre Rechte mit dem Anspruch der Gleichberechtigung auch selbst in die Hand.

Eine in den Kinderbewegungen verbreitete Handlungsform ist die gegenseitige Hilfe in Notlagen. So ermöglichen sie beispielsweise einem Jungen, dem der Schuhputzkasten geklaut wurde, sich einen neuen zu beschaffen. Oder sie veranlassen die Chefin eines Mädchens, das krank geworden ist, die Kosten für die notwendige ärztliche Behandlung zu übernehmen. Manche Kindergruppen haben einen Solidaritätsfonds geschaffen, aus dem lebensnotwendige Ausgaben einzelner Kinder bestritten werden, die anders ihre Notlage nicht bewältigen können. Das Geld für den Fonds erbitten sie von Geschäftsleuten, Ärzten und anderen Personen, die über Ressourcen verfügen, oder sie zahlen selbst einen Teil ihres Verdienstes ein.

Eine bemerkenswerte Form der kollektiven Selbsthilfe, die seit einigen Jahren in El Salvador und Nicaragua praktiziert wird, ist die sogenannte Weihnachtsgeld-Kampagne. Kinder, die auf der Straße Zeitungen, Kaugummi etc. verkaufen, Schuhe putzen oder andere Dienste anbieten, erhöhen in den Wochen vor Weihnachten ihre Preise oder bitten um einen zusätzlichen Betrag. Auf Märkten mobilisieren die Kinder Händler und Marktfrauen zu Patenschaften, oder sie veranstalten in ihren Stadtvierteln Solidaritätsfeste und Tombolas. Das "Weihnachtsgeld" verstehen die Kinder nicht als Almosen, sondern als Anerkennung für eine Arbeitsleistung. Häufig wird das Geld nach selbstgewählten und gemeinsam festgelegten Kriterien untereinander aufgeteilt. Manche Kinder übergeben das Geld ihrer Mama, andere kaufen davon Spielzeug oder Schulsachen oder legen sich davon erstmals einen eigenen Schuhputzkasten oder Bauchladen zu.

Eine andere Art der Kampagne zielt auf das Bildungsrecht. Mit der Privatisierung und Einführung von Schulgeld wird vielen Kindern der Schulbesuch unmöglich gemacht. In ihren Kampagnen fordern die Kinder von Schuldirektoren und örtlichen Schulverwaltungen, auf Schulgeld und Gebühren zumindest bei den Kindern zu verzichten, deren Eltern sie nicht bezahlen können. Oder sie setzen LehrerInnen unter Druck, mit der diskriminierenden Behandlung der Kinder, die sich eine Schuluniform nicht leisten können oder in geflickten Hosen oder ohne Schuhe in die Schule kommen, Schluß zu machen. In anderen Fällen sammeln sie Geld, um besonders bedürftigen Kindern zu ermöglichen, sich Schulsachen zu kaufen. Mitunter haben die Initiativen der Kinder auch schon dazu beigetragen, ihre Lebenssituation und Erfahrungen als arbeitende Kinder im Unterricht ernster zu nehmen oder gar Schulen zu gründen, die auf ihre Lebensrhythmen und Bedürfnisse abgestimmt sind und in denen sie Inhalte und Formen des Unterrichts beeinflussen können.

Wenn Kinder sich organisieren, stellen sie früher oder später die bei vielen Erwachsenen verbreitete Haltung in Frage, über "ihre" Kinder nach Gutdünken zu verfügen. Sie setzen sich beispielsweise öffentlich mit Eltern oder anderen Personen auseinander, die die Kinder nötigen, Dinge zu tun oder unter Bedingungen zu arbeiten, die ihre Würde verletzen oder ihre Gesundheit gefährden. Ein häufiger Anlaß der Kritik ist auch, wenn Eltern den freien Willen ihrer Kinder nicht respektieren und ihre Bewegungs-Freiheit willkürlich beschränken. Nicht selten verwehren Eltern beispielsweise ihren Töchtern, sich an Treffen und Aktivitäten der Kinderbewegung zu beteiligen. In diesen Fällen müssen sie mit "Hausbesuchen" anderer Kinder rechnen, die die Eltern daran erinnern, daß auch ihr Kind "Rechte hat". Über diese Intervention sind die Eltern oft so perplex, daß sie nachgeben oder ihre Haltung überdenken.

Die Kinderbewegungen bilden einen sozialen Raum in dem die Kinder ihre Rechte schätzen lernen und neue Erfahrungen machen können, die sie ihren Rechten näher bringen. Auf ihren Treffen und Begegnungen, in ihren Ferienlagern und workshops können sie selbst weitgehend die Regeln bestimmen, nach denen sie leben und agieren. Sie lernen, den anderen zu respektieren, und machen die befreiende Erfahrung, selbst respektiert zu werden. Sie können sich zumindest zeitweise entlasten von den Zwängen und Belastungen, denen sie im Alltag ausgesetzt sind, und können Kräfte schöpfen und neue Ideen entwickeln, um sich mit ihren Lebensbedingungen auseinanderzusetzen.

Eine besondere Bedeutung sehe ich darin, daß die Kinderbewegung das Selbstbewußtsein und die Fähigkeiten der Kinder stärkt, ihre Interessen zu formulieren und sich in der Öffentlichkeit zu artikulieren. Je länger eine Kinderbewegung Bestand hat und über mehrere Kindergenerationen hinweg eigene Traditionen ausbildet, desto vielfältiger sind die kulturellen Ausdrucksformen. Jede Kinderbewegung bringt ihre eigenen "Dynamiken" hervor, Verbindungen von Spiel und Anstrengung, von Ausgelassenheit und Nachdenklichkeit, die die besonderen Vorzüge und Stärken der Kinder zum Zuge kommen lassen. Es entstehen Lieder und Theaterstücke, die die Erfahrungen und Bedürfnisse der Kinder ausdrücken und ihre Verbundenheit miteinander stärken. In manchen Bewegungen hat sich die besondere Ausdrucksform des testimonio (Selbstzeugnis) entwickelt, in der die Kinder auf sehr persönliche Weise ihre Lebenserfahrungen ihre Sorgen, und ihre Träume vermitteln. Mitunter gelingt es den Kindern auch, eigene Medien hervorzubringen, Zeitschriften, Radioprogramme, Videoproduktionen, in denen sie selbst die Inhaltlichen Akzente setzen und die Form bestimmen. Die Zeitschrift der nicaraguanischen Kinderbewegung heißt Hechos Reales y Fantasias (Tatsachen und Fantasien), ein Name, der auch für die Medien anderer Kinderbewegungen stehen könnte.

Ohne die Kinderbewegungen blieben die Rechte des Kindes abstrakte Normen und die Kinder seelenlose Rechts-Subjekte, angewiesen auf das Wohlwollen der Erwachsenen und ihrer Institutionen. Erst wenn die Kinder als soziale Subjekte agieren und eine aktive Rolle bei der Durchsetzung ihrer Rechte spielen können, füllen sie die Kinderrechts-Kataloge mit Leben. Dies heißt jedoch auch zu akzeptieren, daß die Kinder mit ihren Rechten so umgehen, wie sie es für richtig halten. In der Art, wie die Kinderbewegungen die Kinderrechte interpretieren und praktizieren, setzen sie Akzente und werfen Fragen auf, die von den "offiziellen" Kinderrechts-Interpreten nicht immer geteilt werden. Die Kinder machen auch auf Ungereimtheiten im Kinderrechtsdiskurs aufmerksam und reklamieren Rechte, an die bisher niemand gedacht hat oder denken wollte.

Kinderfragen zur Kinderrechtsdebatte

Die Debatte um die Kinderrechte kreist heute im wesentlichen um die internationale Konvention über die Rechte des Kindes. Sie wurde nach zehnjähriger Vorarbeit, an der zahlreiche Regierungen und schließlich auch NGO's beteiligt waren, 1989 von der General-Versammlung der Vereinten Nationen einstimmig angenommen. Am 2. September 1990 trat die Konvention als internationales Recht in Kraft, nachdem sie bis zu diesem Zeitpunkt von 178 Staaten ratifiziert worden war. Mit ihrer Unterschrift verpflichteten sich die Staaten, die Bestimmungen in ihr eigenes Recht umzusetzen.

Die Konvention formuliert drei Arten von Rechten, die sich mit den "drei P's" beschreiben lassen: protection, provision, participitation (Schutz, Bereitstellung von Ressourcen, Teilnahme). Im ersten Bereich garantiert sie den Kindern (lt. Konvention alle Menschen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres) Schutz vor Mißhandlung, vor ökonomischer und sexueller Ausbeutung und vor Diskriminierung aufgrund von Rasse, Geschlecht oder Minderheitenstatus. Im zweiten Bereich attestiert sie den Kindern das Recht auf ungestörte frühkindliche Entwicklung, auf (Grund-)Schulbildung, Gesundheitsfürsorge und generell auf menschenwürdige Lebensbedingungen. Im dritten Bereich gibt sie den Kindern das Recht auf eigenen Namen, auf Staatsbürgerschaft, auf freie Information und Meinungsäußerung, auf Partizipation an Entscheidungen über sein Wohlbefinden und schließlich auch das Recht, sich friedlich zu versammeln und eigene Assoziationen zu bilden.

Folgen wir dem UNICEF-Bericht "Zur Situation der Kinder in der Welt 1996" (UNICEF 1995), so besteht der "wesentlichste Fortschritt (...) in der Anerkennung des Kindes als eigenständiges Individuum. Die Konvention schreibt fest, daß das Kind über eine eigene gegenüber Eltern und Erziehungsberechtigten abgegrenzte Identität verfügt und daß die Gemeinschaft die Pflicht hat, diese Identität zu schützen und es dem Kind zu ermöglichen, sich in Fragen wie Vormundschaft oder Sorgerecht auch zu behaupten. Auf diesen Gebieten sollte der ausschlaggebende Leitgedanke das »beste Interesse des Kindes« sein".

Mit der Etablierung eigener Rechte überwindet die Konvention eine Auffassung des Kindes, wonach dessen "eigentliches Leben" erst beginnt, wenn es erwachsen ist. Eigene Rechte zu haben bedeutet für das Kind, von Geburt an ein menschenwürdiges Leben beanspruchen zu können, für dessen Erfüllung die Gesellschaft verantwortlich ist. Sie stärkt dadurch die gesellschaftliche Stellung des Kindes und wird in diesem Sinn auch von den Kinderbewegungen in Anspruch genommen. Gleichwohl ist zu fragen, welche Rolle die Konvention dem Kind bei der Realisierung seiner Rechte und der Erlangung eines menschenwürdigen Lebens zubilligt. Die Kinderbewegungen beanspruchen ausdrücklich, die Kinder nicht nur als Nutznießer von besonderen Rechten zu verstehen, die Erwachsene zu ihren Gunsten definiert haben, sondern als aktive Wesen mit eigenen Sichtweisen, Fähigkeiten und Urteilen. Sie verlangen, nicht nur geschützt, sondern auch als Partner respektiert zu werden, die selbst Aufgaben in der Gesellschaft übernehmen und ihr Leben selbst gestalten können.

Die Art und Weise, in der die Konvention das Kind als eigenständiges Individuum anerkennt, läßt hierfür wenig Raum. Die Identität des Kindes basiert im Verständnis der Konvention allein auf der Etablierung eines von den Erwachsenen geschützten Schonraumes, hat aber selbst keinen originären positiven Inhalt. Sie wird nicht vorgestellt als mögliches Ergebnis einer aktiven, selbstverantwortlichen Auseinandersetzung des Kindes mit der gesellschaftlichen Realität und seiner aktiven Mitwirkung an den gesellschaftlichen Angelegenheiten.

Die in der Konvention enthaltenen Partizipationsrechte sind entweder so vage und allgemein formuliert ("eigener Name", "Staatsbürgerschaft") oder werden soweit von Bedingungen abhängig gemacht, daß letztlich wieder die Erwachsenen "im wohlverstandenen Interesse des Kindes" das letzte Wort behalten, Das Recht des Kindes auf freie Meinungsäußerung z.B. wird davon abhängig gemacht, daß es "fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden". Die Staaten brauchen die Meinung des Kindes lediglich "angemessen" und "entsprechend seinem Alter und seiner Reife" zu berücksichtigen, was eine willkürliche Auslegung durch die herrschenden Instanzen nahelegt und das formal zugestandene Recht letztlich gegenstandslos macht.

Nach der die Konvention bestimmenden Logik erscheint das Kind in erster Linie als schutz- und hilfsbedürftiges Wesen, dessen sich die Gesellschaft der Erwachsenen annehmen soll. Die zaghafte und an Bedingungen geknüpfte Aufnahme einiger Partizipationsrechte vertreibt das "protektionistische Lüftchen" nicht, das schon in früheren Kinderrechts-Deklarationen geweht hat, und ändert auch nichts daran, daß das Kind "weiterhin mehr als Problem denn als soziales Potential" betrachtet wird. Ein anderer Kritiker wirft den hinter der Konvention stehenden "Gutmenschen" und "Kinderschützern" sogar vor, daß sie "das Kind der Lächerlichkeit preisgeben und einen gelehrten Affen aus ihm machen, indem sie es mit dem ganzen juristischen Tand der Erwachsenen ausstaffieren", mit dem sie nichts anfangen können.

Solange das Kind nur als Rechts-Subjekt verstanden wird, bleibt sein Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben abstrakt. Laut Konvention haben alle Kinder die gleichen Rechte, doch wie diese Rechte zu verwirklichen und welche Schwierigkeiten dabei zu überwinden sind, wird erst deutlich, wenn wir die Kinder konkret als Menschen begreifen, die bestimmte Eigenschaften, Sorgen, Träume, Ansichten, Bedürfnisse, Erfahrungen usw. haben und unter bestimmten sozialen Verhältnisse leben, die es ihnen erleichtern oder erschweren können, von ihren Rechten Gebrauch zu machen und sich als Subjekt zu verwirklichen.

Die Kinderbewegungen geben hierfür bemerkenswerte Beispiele. Sie berufen sich nicht nur auf ihre Rechte als Kinder, sondern legen auch den Finger bestimmte subjektfeindliche Merkmale der Gesellschaften, in denen sie leben, und zeigen Alternativen auf. Vor allem scheint ihnen ein Dorn im Auge zu sein, daß die Kinder systematisch von gesellschaftlicher Mitwirkung und Verantwortung ausgeschlossen werden und daß dies mit ihrer vermeintlichen altersbedingten "Unreife" oder "Unvollkommenheit" legitimiert wird. Sie stellen auf eine fundamentale Weise das paternalistische Grundmuster der bestehenden Gesellschaften in Frage, indem sie nicht nur beklagen, Befehlsempfänger (Objekte) der Erwachsenen zu sein, sondern auch darauf bestehen, die Rollen zwischen den Altersgruppen neu zu verteilen. Die Kinder scheinen nicht einsehen zu wollen, warum die "kindliche Phantasie" auf die Kinder begrenzt und die "Verantwortlichkeit" den Erwachsenen vorbehalten sein soll. Damit reklamieren sie für sich eine neue Stellung in der Gesellschaft, ohne aufhören zu müssen, "Kind" zu sein. Und sie machen deutlich, daß ein neues Verständnis, wir können auch sagen: eine neue Kultur der Kindheit auch eine neue Kultur der Erwachsenen erfordert. Nur so, ließe sich schlußfolgern, können Erwachsene wie Kinder zu sozialen Subjekten werden und soziale Subjekte ihr Leben lang bleiben.

In welcher Weise sich Kinder in Lateinamerika mit den erwachsenen Sachverwaltern und Interpreten der Konvention auseinandersetzen, will ich an drei Beispielen veranschaulichen. Sie stammen aus Nicaragua, könnten aber auch in anderen Ländern in ähnlicher Weise vorkommen.

Erstes Beispiel:

Zur Vorbereitung ihres 3. Nationalen Treffens, das im September 1995 in Managua stattfand, veranstaltete das Movimiento de Niños, Niñas y Adolescentes Trabajadores (NATRAS) unter mehr als 1000 arbeitenden Kindern einen Gruppenreflexionsprozeß zu der Frage, ob sie ihre Arbeit als ein Recht oder als Ausbeutung betrachten. Das Ergebnis faßten sie auf dem Einladungsplakat ihres Treffens mit den Worten zusammen: "SI AL TRABAJO - NO A LA EXPLOTACION", d.h. sie bejahen die Arbeit, wollen sie aber unter besseren Bedingungen (ohne Ausbeutung) ausüben.

UNICEF, die das Movimiento bis dahin mit Wohlwollen und einer gewissen Befriedigung über das Interesse der Kinder an ihren Rechten unterstützt hatte, reagierte bestürzt und kündigte dem Movimiento die Zusammenarbeit. Begründung: Die Kinder hätten das Vertrauen von UNICEF mißbraucht und nähmen eine Position ein, die mit der Konvention und der Philosophie von UNICEF nicht vereinbar sei. Diese ziele auf eine Abschaffung der Kinderarbeit.

Offensichtlich handelt es sich um verschiedene Interpretationen dessen, was die Konvention als "Recht des Kindes, vor Ausbeutung geschützt zu werden" bezeichnet. In Übereinstimmung mit vielen Regierungen und NGO's sieht UNICEF den einzigen und besten Weg, um dieses Ziel zu erreichen, im generellen Verbot der Kinderarbeit. Die arbeitenden Kinder hingegen, sehen die beste Möglichkeit, sich vor Ausbeutung zu schützen, darin, ihre Arbeit, ohne die sie und ihre Familien nicht überleben könnten, sozial anzuerkennen und sie mit mindestens denselben Arbeitsrechten auszustatten, die erwachsenen ArbeiterInnen zugebilligt werden. "Den Kindern die Arbeit zu verbieten heißt, nicht an die Kinder zu denken", lautet ihr prononcierter Kommentar.

Noch pikanter wird der Konflikt dadurch, daß es sich bei den Opponenten von UNICEF um Kinder handelt, denen die Konvention das Recht auf freie Meinungsäußerung einräumt. Die Schlußfolgerung der Kinder lautete denn auch, dieses Recht erweise sich im Ernstfall als billiges Stück Papier, mit dem die Erwachsenen nach Belieben umgehen. Und tatsächlich ließ UNICEF verlauten, die Kinder hätten in dieser Frage kein selbständiges Urteil getroffen. da ihnen offensichtlich die nötige Reife und der nötige Durchblick gefehlt habe.

Zweites Beispiel:

Auch dieses Beispiel hat mit UNICEF zu tun. Noch vor dem Konflikt um das Plakat hatte UNICEF dem Movimiento kontinuierliche Unterstützung zugesichert unter der Voraussetzung, daß es einen Vertrag abschlösse. Als der Vertrag ausgearbeitet wurde, stellte sich heraus, daß das Movimiento nur als "juristische Person" Vertragspartner von UNICEF sein könne. Warum nicht, sagten die Kinder, mußten jedoch bald feststellen, daß sie hierzu erwachsener Vertrauenspersonen bedurft hätten, da die nicaraguanische Verfassung die Rechtsfähigkeit in solchen Angelegenheiten Personen unter 18 Jahren, also Kindern im Sinne der Konvention, nicht zugesteht. UNICEF schien das alles schon im voraus gewußt zu haben, denn ihre VertreterInnen hatten schon früh vorgeschlagen, "der Einfachheit halber" und "um das ganze Verfahren abzukürzen" eine NGO mit der Vertretung der Kinderbewegung zu betrauen. Letztlich haben die Kinder dankend abgelehnt, da sie ihre mühsam errungene Autonomie nicht für ein bißchen Geld preisgeben wollten. Sie fragten sich allerdings auch, wie es um das Kinderrecht, "sich frei mit anderen zusammenzuschließen" (Art 15.1), bestellt ist, wenn Kindern nicht gleichzeitig die dafür erforderliche Rechtsstellung zugebilligt wird. Wie marginal letztlich die Beteiligungsrechte bewertet werden, zeigt sich darin, daß weder UNICEF noch staatliche Stellen darin ein Problem oder einen inneren Widerspruch der Konvention erkennen wollten, zu dessen Lösung sie sich engagieren sollten.

Drittes Beispiel:

Im neuen Kinder- und Jugendgesetz (Código de las Niñas, Niños y Adolescentes), das 1995 auf Initiative zahlreicher NGO's in das Parlament eingebracht wurde, um die nationale Gesetzgebung der Konvention anzugleichen, sind auch Partizipationsrechte vorgesehen. Soweit es sich nicht nur um Mitbestimmungsrechte in pädagogischen Einrichtungen, sondern um staatsbürgerliche ("politische") Rechte (wie das Recht zu wählen, Petitionen einzureichen, eine Antwort der zuständigen staatlichen Stellen in festen Fristen zu erhalten, u.a.) handelt, sollen diese an die Voraussetzung geknüpft werden, das 16. Lebensjahr vollendet zu haben.

Nachdem sie zur Mitwirkung an der Ausarbeitung des Gesetzes ausdrücklich eingeladen worden waren, zeigten sich die Movimiento aktiven Kinder über diese Bedingung ziemlich verwundert. In ihrer eigenen Organisation haben sie das Höchstalter auf 16 Jahre festgelegt und sehen sich gleichwohl als kompetente und aktive BürgerInnen ihres Landes. Was ist das uns in der Konvention zugebilligte Recht auf Staatsbürgerschaft schon wert, fragen sie, wenn wir allein aufgrund unseres Alters gänzlich aus dem politischen Prozeß des demokratischen Gemeinwesens ausgeschlossen werden? Und wie soll letztlich entschieden werden, was "im wohlverstandenen Interesse des Kindes" ist, wenn die Kinder selbst daran nicht partipizieren können? PolitikerInnen und NGO-VertreterInnen reagieren auf solche Fragen ratlos, da sie offensichtlich ein Tabu der paternalistischen Gesellschaft berühren, vor dem die Debatte um die Kinderrechte bislang Halt gemacht hat.

Schlußfolgerungen

Der praktische Umgang der Kinderbewegungen mit den Kinderrechten und die Fragen, die sie in der aktuellen Debatte aufwerfen, lassen folgende Schlüsse zu. Der radikale Neubeginn, den die Konvention beansprucht, indem sie den Kindern das Recht auf eine menschenwürdige Gegenwart und eine selbstbestimmte soziale Identität verspricht, bleibt ohne nennenswerte Folgen, solange die Kinder weiterhin vor allem als Opfer und defizitäre, zu beschützende Wesen betrachtet werden. Diese Sichtweise impliziert, daß Kindern die Fähigkeit bestritten wird, "ihre Interessen zu erkennen und zu vertreten, und daher das Kindeswohl von den Erwachsenen (Eltern, LehrerInnen, SozialarbeiterInnen, RichterInnen, ExpertInnen usw.) bestimmt werden muß".

Ohne Zweifel brauchen die Kinder die Unterstützung Erwachsener und ein gesellschaftliches Ambiente, das ihnen die Ausbildung ihrer Fähigkeiten und die Ausübung ihrer Interessen und Rechte erleichtert. Dazu wird in bestimmten, begrenzten Momenten ihres Lebens auch der Schutz vor Risiken und Gefahren gehören müssen. Aber wesentlich ist, daß wir "nicht mehr die Kinder, sondern ihre Rechte schützen" und im gleichen Atemzug die Möglichkeiten zur sozialen Partizipation erweitern.

Die Kinderbewegungen machen darauf aufmerksam, daß die soziale Partizipation der Kinder sowohl eine politische als auch eine wirtschaftliche Komponente besitzt. Nicht alle Kinderbewegungen reklamieren das "Recht zu arbeiten", aber sie bestehen darauf, ihre wirtschaftliche Rolle in der Gesellschaft anzuerkennen und leiten aus dieser einen erweiterten Anspruch auf politische Partizipation ab. Sie wissen aus eigener Erfahrung, daß sie im Grunde nur dann Ernst genommen werden und ihre Rechte in Anspruch nehmen können, wenn ihre soziale Stellung durch eine wirtschaftliche bzw. nützliche Tätigkeit und unter Umständen eigenes Einkommen gestützt wird.

Die politische Komponente der sozialen Partizipation wird in allen Kinderbewegungen früher oder später ebenfalls als unverzichtbar artikuliert. Der Grund dafür besteht darin, daß die Kinder sehr genau spüren, wie sehr sie ohne direkte Einflußnahme auf das politische Geschehen (keineswegs nur in periodisch stattfindenden Wahlen) zum Spielball fremder Interessen werden und ihre Rechte beliebig als Alibi mißbraucht werden können. Auch um den "adultistisch verzerrten Vorstellungen vom Kinderwohl" zu begegnen, die Teil ihrer täglichen Erfahrung sind, bleibt den Kindern gar nichts anderes übrig, als sich vom Wohlwollen der Erwachsenen unabhängig zu machen.


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Branko Stahl

Branko.Stahl@hrzpub.th-darmstadt.de