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ai-Journal 4/96

CHINA

Interview mit Gedun Rinchen "Der Druck hat geholfen"

Der Reiseleiter Gedun Rinchen wollte im Mai 1993 Informationen über die Repression in Tibet an eine Delegation der Europäischen Union übergeben. Kurz vorher wurde er inhaftiert. Nach seiner Freilassung entschloß er sich 1995, nach Indien zu flüchten. Das ai-Journal traf ihn kürzlich bei einer Reise durch Europa.

ai-Journal: Sie sind 1959 schon einmal nach Indien geflüchtet, nachdem die tibetische Unabhängigkeitsbewegung von China niedergeschlagen worden war. Warum entschlossen Sie sich später, nach Tibet zurückzugehen?

Gedun Rinchen: Das war 1985. Wir waren nach Gaya in Südindien gezogen, und zu dieser Zeit haben meine Eltern zwei Freunde aus Tibet getroffen. Zusammen haben sie die Idee entwickelt, nach Tibet zurückzukehren - schließlich ist das für uns der heiligste Ort auf der Erde. Ich bin der älteste Sohn, also habe ich meinen Job aufgegeben und bin mit nach Tibet zurückgegangen..

Sie waren also in Tibet, als 1987 die Demonstrationen für Unabhängigkeit wieder begannen. Die Unterdrückung nahm damals massiv zu: Viele Menschen wurden getötet, viele festgenommen, viele inhaftiert. Waren Sie an den Protestaktionen beteiligt?

Als 1987 die Demonstrationen vor allem in Lhasa stattfanden, arbeitete ich als Reiseleiter. Ich war nicht direkt an den Demonstrationen beteiligt, aber ich hatte natürlich Kontakt zu Teilnehmern und bekam regelmäßig Informationen über die Vorgänge. Ein Freund von mir wurde bei einer der Demonstrationen durch eine Kugel verletzt. Das löste schließlich mein Engagement aus: Ich begann mich mit den Menschenrechten und ihren Verletzungen durch die chinesischen Sicherheitskräfte zu beschäftigen. Sechs Jahre lang beobachtete und begleitete ich kritisch die chinesische Politik in Tibet - bis ich im Mai 1993 inhaftiert wurde.

Damals haben sie geplant, einer Delegation von Botschaftern der Europäischen Union einige Papiere zu übergeben. Welche Art von Informationen waren das?

Ich hatte eine Stellungnahme zu politischer Haft und über Haftbedingungen und Folter in Haftzentren und Gefängnissen vorbereitet. Am 13. Mai 1993 habe ich früher aufgehört zu arbeiten, um den Bericht fertigzustellen. Als ich nach Hause kam, durchsuchten Polizisten meine Wohnung. Sie fanden viele Bücher in englischer Sprache und Bücher über die Geschichte, Kultur und Religion Tibets. Sie fanden auch ein paar Flugblätter, eine Schreibmaschine und Kopien des noch unvollständigen Berichtes für die Europäische Union. Als ich ankam, fragte mich ein Mann, ob die Sachen, vor allem die Schreibmaschine, mir gehörten. Ich bejahte das. Die Polizisten sagten mir, ich solle am nächsten Tag zur Polizeiwache kommen. Dann gingen sie. Doch schon 45 Minuten später waren sie wieder da und brachten mich auf die Polizeistation. Dort wurde ich vier Stunden lang verhört und mußte dann in einer Zelle übernachten. Zwei Beamte haben mich bewacht. Am nächsten Tag kam ich ins Seitru-Haftzentrum im Osten Lhasas.

Sie mußten dann eineinhalb Jahre im Gefängnis bleiben - das ist sogar vergleichsweise kurz, wenn man Haftzeiten für ähnliche "Vergehen" in China als Maßstab nimmt. Was hatte Ihrer Meinung nach der internationale Druck für eine Wirkung auf Ihre Freilassung?

Ich war 18 Monate lang in einem Haftzentrum. Mitgefangene mußten für mehrere Jahre hinter Gitter. Manche wurden mißhandelt, ich selbst habe keine physische Mißhandlung oder Folter ertragen müssen. Als ich im Gefängnis war, habe ich nicht gewußt, daß sich aus aller Welt Menschen für meine Freilassung einsetzen. Ich erfuhr das erst nach meiner Freilassung. Ich habe nicht erwartet, so schnell freigelassen zu werden. Der internationale Druck dürfte dabei geholfen haben - amnesty international, Einzelpersonen, Diplomaten, Regierungen und natürlich die Europäische Union, die eigens eine Resolution zu fünf tibetischen Gefangenen verabschiedete. Einer von ihnen war ich.

Sie reisen jetzt durch Europa und anschließend in die USA. Welche Unterstützung erwarten Sie für den Kampf um die Menschenrechte in Tibet?

Vor allem möchte ich die Leute darüber informieren, wie die Lage der Menschenrechte dort zur Zeit wirklich ist. Und dann geht es mir besonders darum, die westlichen Politiker aufzufordern, gegenüber China die Menschenrechtsaspekte nicht zu vernachlässigen. China ist ein sehr kompliziertes Land, das nicht immer ganz leicht zu verstehen ist. Ich habe mich über Jahre hinweg sehr intensiv mit der chinesischen Geschichte und der chinesischen Politik in Tibet befaßt. Ich bin auch hier, um Druck zu machen, damit die chinesische Regierung ihre Tibet-Politik ändert.

Denn Peking nimmt keine Rücksicht auf tibetische Traditionen. So wurde für ein besonderes Pflanzungsprojekt geplant, den heiligen Yamdrok-See in Tibet trocken zu legen. Dieser See hat für uns eine ganz besondere religiöse Bedeutung. Der frühere Pantschen Lama konnte das Projekt stoppen. Doch nur drei Wochen, nachdem der Pantschen Lama für tot erklärt worden war, wurde das Projekt fortgesetzt. Die Religion wird nicht gefördert, sondern unterdrückt. Fotos religiöser Führer sind nicht erlaubt, tibetische Kultur wird eingeschränkt. Aus den Schulen wird das Tibetische verdrängt, und den Schülern wird verboten, andere Bücher zu lesen, als die, die sie im Unterricht bekommen.

Auf der anderen Seite wird das tibetische Problem inzwischen im Ausland wahrgenommen. Hat das Auswirkungen?

Ich sehe darin keinen direkten Effekt für Tibet. Aber es gibt ein besseres Bewußtsein bei den Politikern dafür, daß es in Tibet Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen gibt. China wird von wenigen hundert Menschen regiert, die kommunistische Partei besitzt alles, auch in der "Autonomen Region Tibet" gibt es zum Beispiel keine Privatunternehmen - obwohl das von der chinesischen Führung anders dargestellt wird. In Lhasa gibt es etwa 40 Reisebüros: Sie alle sind im Besitz der Partei.

Deutsche Politiker argumentieren immer, mehr wirtschaftlicher Handel würde das Land liberaler und damit freier machen. Führt wirtschaftlicher Wandel Ihrer Ansicht nach zur Achtung der Menschenrechte?

Nun ja, einerseits wird das Land wirklich etwas offener durch Gespräche mit westlichen Politikern und Geschäfte mit westlichen Unternehmen. Aber wirtschaftliche Öffnung gibt es in China nun schon seit einigen Jahren, und die Menschenrechtsverletzungen sind nicht weniger geworden. Nach meiner Erfahrung in Tibet glaube ich nicht, daß Entwicklungsprojekte und Handel wirklich helfen. Es gibt weiterhin viele Übergriffe - trotz UNO-Resolutionen, trotz der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Und sie finden nicht einmal im Jahr statt, sondern dauernd. Es gibt kein juristisches System, das die Täter bestrafen würde - in Tibet nicht, und ich glaube, in China auch nicht. Denn es gibt eine totalitäre Einparteien-Herrschaft, die international nicht isoliert wird. Ganz anders war das zuletzt in Nigeria: Nach der Hinrichtung von Ken Saro-Wiwa und anderen Menschenrechtlern setzte die Staatengemeinschaft das Land sehr unter Druck. Die Mitgliedschaft in den Commonwealth-Staaten wurde ausgesetzt. Gegenüber China werden solche Maßnahmen aber gar nicht diskutiert.

Interview: Dirk Pleiter


Verantwortlich für diese Seite: Guido Gabriel und Robert Danzmayr Letztes Update: 29. März 1996
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