Staaten, die Menschenrechtsverletzungen wie extralegale Hinrichtungen, Folterungen oder das »Verschwindenlassen« von Personen anordnen oder dulden, müssen sich gemäß internationalen Menschenrechtsstandards gegenüber der Staatengemeinschaft und internationalen Menschenrechtsgremien verantworten. Doch es sind Politiker, Richter, Polizisten, Militärs und andere Funktionsträger, aus denen sich Regierungs- und andere staatliche Institutionen zusammensetzen. Wo Menschenrechtsverletzungen begangen werden, tragen dafür auch Menschen die Verantwortung. Sie sind es, die Verstöße gegen die Menschenrechte anordnen, verüben oder stillschweigend geschehen lassen. Für ihre Verbrechen trifft sie eine persönliche Schuld, sowohl nach innerstaatlichem als auch nach internationalem Strafrecht.
Es ist immer wieder zu beobachten, daß Staaten nur sehr zögerlich bereit sind, die für Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen vor Gericht zur Rechenschaft zu ziehen. Sie entziehen sich ihrer ureigenen Verpflichtung, gegen die Täter auf der Grundlage innerstaatlicher Gesetzesvorschriften strafrechtliche Schritte einzuleiten. Auch dem völkerrechtlichen Gebot, eine jedwede Person vor Gericht zu bringen oder auszuliefern, die im Verdacht steht, in einem anderen Land bestimmte Delikte wie etwa Folterhandlungen oder Kriegsverbrechen begangen zu haben, kommen Staaten nur selten nach. Bislang stellt das internationale Strafrecht kaum mehr als einen Katalog hochfliegender Prinzipien dar, deren Durchsetzung es noch zu erkämpfen gilt.
Wenn Menschenrechtsverletzungen ungeahndet bleiben, und dies hat die Erfahrung gezeigt, fühlen sich die Täter und andere Personen durch nichts daran gehindert, immer weiter gegen die Menschenrechte zu verstoßen. Sie handeln in der Gewißheit, für ihre Verbrechen Straffreiheit zu genießen. Ähn-liches trifft auch für Staaten zu. Wenn die internationale Gemeinschaft sie aus ihrer Verantwortung entläßt, werden die Machthabenden wenig Veranlassung verspüren, dafür Sorge zu tragen, daß in ihrem Land Regierungs- und staatliche Institutionen nicht gegen international verankerte Menschenrechte verstoßen.
Die 1945 verabschiedete Charta der Vereinten Nationen beginnt mit den Worten: »Wir, die Völker der Vereinten Nationen, [sind] fest entschlossen ... unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen ... an die Gleichberechtigung von Mann und Frau ... erneut zu bekräftigen.« Seitdem ist ein umfassendes Geflecht menschenrechtlicher Normen und Überwachungsmechanismen geschaffen worden, um Staaten rechtlich wie politisch für die Wahrung der Menschenrechte in die Verantwortung zu nehmen. Daß sich im Berichtszeitraum, 50 Jahre nach Gründung der Vereinten Nationen, Staaten, in denen selbst gegen menschenrechtliche Mindeststandards verstoßen wird, ihrer Rechenschaftspflicht haben entziehen können, ist ein Armutszeugnis, das sich die Regierungen der Welt selbst ausgestellt haben. Rhetorik und Lippenbekenntnisse können nicht darüber hinwegtäuschen, daß noch immer allzu oft die Menschenrechte wirtschaftlichen, politischen und Sicherheitsinteressen untergeordnet werden. Die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, das wichtigste Gremium der Weltorganisation auf menschenrechtlichem Gebiet, trägt ein hohes Maß an Mitverantwortung dafür, daß sich Regierungen der internationalen Beobachtung ihrer Menschenrechtspolitik haben entziehen können.
Auf den folgenden Seiten werden die von den Vereinten Nationen und regionalen zwischenstaatlichen Organisationen 1995 ergriffenen Maßnahmen beleuchtet, welche darauf ausgerichtet sind, die für Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und Staaten, die gegen international verankerte Menschenrechte verstoßen, in die Pflicht zu nehmen. Besonders ermutigend waren die im Be-richtszeitraum erzielten Fortschritte bei den Beratungen über die Einrichtung eines ständigen internationalen Strafgerichtshofs als eine Art Personifizierung internationaler Strafrechtsnormen und Menschenrechtsprinzipien. Die Empörung der Weltöffentlichkeit darüber, daß rund um den Erdball die für schwerste Greueltaten Verantwortlichen frei und ungestraft davonkommen, hat die Regierungen schließlich bewogen, die Initiative zur Schaffung eines ständigen Strafgerichtshofs zu unterstützen.
Beunruhigen mußte 1995 hingegen die fehlende Bereitschaft der Staaten, die für die Beobachtung der Menschenrechtssituation sowie den Schutz und die Durchsetzung der Menschenrechte notwendigen Mittel bereitzustellen. Ausgerechnet im 50.Jahr ihres Bestehens durchlebten die Vereinten Nationen eine tiefe finanzielle Krise, die sich auf die gesamten Aktivitäten der Organisation auswirkte. Selbst so dringliche und wichtige Menschenrechtsinitiativen wie beispielsweise Maßnahmen zur Bekämpfung der Straffreiheit in Ländern wie Ruanda, in denen im Zuge bewaffneter Konflikte massive Menschenrechtsverletzungen begangen worden sind, waren von den Mittelkürzungen betroffen.
Im Berichtszeitraum mußte amnesty international des weiteren registrieren, daß eine Reihe von Staaten die Weiterentwicklung internationaler Menschenrechtsnormen und Überwachungsmechanismen mit aller Kraft zu hintertreiben versuchten. So kamen die Arbeiten an einem Entwurf für eine Erklärung zum Schutz von Menschenrechtlern, über den bereits seit zehn Jahren debattiert wird, nicht von der Stelle, weil Regierungen in zynischer Weise zu Verfahrenstricks griffen, um die Fertigstellung des Entwurfs zu verhindern. Auch die Schaffung eines neuen Mechanismus, durch den mit Hilfe von Inspektionsbesuchen Folterungen in Hafteinrichtungen vorgebeugt werden soll, drohte zu scheitern, da Regierungen gegen einige der wichtigsten Regelungen des Mechanismus Einwände erhoben.
»Ein internationaler Strafgerichtshof ist dringend vonnöten. Er stellt in der Tat das fehlende Bindeglied im internationalen Recht dar.« Diese Auffassung vertraten im Februar 1995 die Richter des Internationalen Strafgerichts für das ehemalige Jugoslawien.
Es liegt ein halbes Jahrhundert zurück, daß sich die Mitgliedstaaten der soeben gegründeten Vereinten Nationen verpflichteten, ein neues internationales Strafrechtssystem zu schaffen. Initiativen, mit der Errichtung eines ständigen internationalen Strafgerichts diese Verpflichtung einzulösen, haben im Berichtszeitraum an Schubkraft gewonnen, auch wenn einige wenige Regierungen dem Projekt weiterhin ablehnend gegenüberstanden. Die Aufgabe eines solchen internationalen Strafgerichtshofs wäre es, in Fällen, in denen Staaten nicht bereit oder nicht in der Lage sind, gegen die für schwere Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht Verantwortlichen strafrechtlich vorzugehen, initiativ zu werden und Verfahren gegen die Täter einzuleiten.
Ein von der Generalversammlung der Vereinten Nationen 1994 eingesetzter Sachverständigenausschuß aus Regierungsvertretern traf im April und August in New York zusammen, um über einen Statutenentwurf für einen internationalen Strafgerichtshof zu beraten. Eine Reihe von Staaten, unter ihnen die beiden Ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates Frankreich und Rußland, vertraten dabei den Standpunkt, daß der Entwurfstext in einen völkerrechtlichen Vertrag einmünden und das Gericht unverzüglich eingesetzt werden sollte. Eine kleine, aber einflußreiche Gruppe von Staaten wie die USA, China und Großbritannien, die drei anderen Mitglieder im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, machten dagegen eine Reihe grundsätzlicher Einwände geltend, die sie vor der Erarbeitung eines Vertragsentwurfs gelöst wissen wollten.
Während der Beratungen über die Schaffung eines internationalen Strafgerichts wurden einige strittige Fragen aufgeworfen, über die Konsens erzielt werden muß, wenn ein effektives Tätigwerden des Gerichtshofs sichergestellt sein soll. Einigkeit bestand darüber, daß das internationale Strafgericht nur dann Verfahren einleiten kann, wenn die nationale Gerichtsbarkeit dazu nicht bereit oder nicht in der Lage ist. Wer aber trifft die Entscheidung, ob ein solcher Fall gegeben ist? Das Gericht oder der fragliche Staat? Nach Auffassung von amnesty international muß die Entscheidungskompetenz ausschließlich bei den Richtern des internationalen Strafgerichts liegen. Einige Staaten haben des weiteren zu verhindern versucht, daß die Anklagevertretung des Gerichts aus eigener Initiative Ermittlungen und strafrechtliche Schritte einleiten kann, ohne daß eine Staatenbeschwerde oder eine entsprechende Entscheidung des Sicherheitsrates vorliegt. amnesty international vertritt in dieser Frage den Standpunkt, daß eine unabhängige Rechtsprechung des Gerichts gefährdet sein könnte, wenn es der Anklagebehörde nicht möglich ist, alle zugänglichen Informationsquellen zu nutzen und nach eigenem Ermessen Verfahren anzustrengen.
Der US-amerikanische Präsident Bill Clinton deutete im Oktober offenbar eine Wende in der Haltung seiner Regierung zur Frage des internationalen Strafgerichtshofs an. Auf einer Universitätsveranstaltung in Connecticut anläßlich des 50.Jahrestages der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse sprach er von der Notwendigkeit, gegenüber all jenen, »die mit der Ausrede des Krieges entsetzliche Greueltaten begehen«, ein Zeichen zu setzen, »daß sie sich den Folgen solchen Handelns nicht entzie-hen können«. Bill Clinton weiter: »Und das Signal wird hörbarer und deutlicher sein, wenn alle Staaten rund um den Erdball, die Freiheit und Toleranz hochachten, einen ständigen internationalen Gerichtshof schaffen, der mit Unterstützung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen schwere Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht ahndet.«
Bislang hat die US-amerikanische Regierung den Worten ihres Präsidenten noch keine Taten folgen lassen. Sie zeigt weiterhin wenig Bereitschaft, sich innerhalb der Vereinten Nationen dafür stark zu machen, daß schnellstmöglich ein permanenter Strafgerichtshof mit umfassenden Kompetenzen eingerichtet wird.
Den Empfehlungen des von ihr eingesetzten Sachverständigenausschusses folgend, entschied die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Dezember 1995, ein Vorbereitungskomitee mit der Lösung noch strittiger Fragen und der Ausarbeitung eines Vertragsentwurfs, der ein Statut für einen ständigen internationalen Strafgerichtshof enthalten soll, zu beauftragen. Der weitere Fahrplan: Auf der Grundlage des Abschlußberichts des Komitees wird die Generalversammlung auf ihrer Sitzung im Jahre 1996 über den Zeitpunkt der Einberufung einer Regierungskonferenz entscheiden. Diese könnte 1997 stattfinden. Finden sich genug Staaten, die den politischen Willen aufbringen, dem Vertrag über einen ständigen internationalen Strafgerichtshof beizutreten, so könnte ein solches fest etabliertes Gericht 1998 seine Tätigkeit aufnehmen.
Die Mitglieder von amnesty international rund um den Erdball haben sich im Berichtszeitraum für die Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs engagiert. Sie haben entsprechende Petitionen an ihre Regierungen gerichtet, in öffentlichen Veranstaltungen und in Anschreiben an Parlamentarier um Unterstützung für ihre Bemühungen geworben, das Thema in die Medien hineingetragen und in Gesprächen mit Vertretern von Außenministerien die Positionen von amnesty international erläutert. Die Organisation ruft alle Staaten auf, ihre Beratungen über die Einrichtung eines ständigen Strafgerichtshofs 1996 abzuschließen, so daß die entscheidende internationale Regierungskonferenz im Jahre 1997 zustande kommen kann.
Im Juli veröffentlichte amnesty international einen Bericht mit dem Titel The quest for international justice: Time for a permanent international criminal court, in dem sie betonte, daß es an der Zeit ist, die Idee eines ständigen internationalen Strafgerichts Wirklichkeit werden zu lassen.
Trotz finanzieller Engpässe und politischer Hemmnisse setzte das Internationale Strafgericht zur Verfolgung schwerer Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht im ehemaligen Jugoslawien seine Arbeit fort (siehe Jahresbericht 1995). Es führte weitere Ermittlungen durch und legte Anklageschriften vor. Der Tag, an dem zumindest einige der für schwere Menschenrechtsverletzungen auf dem Hoheitsgebiet des früheren Jugoslawien mutmaßlich Verantwortlichen dem Gericht Rede und Antwort stehen müssen, schien näherzurücken. Auch das Internationale Strafgericht zu Ruanda, das seine Tätigkeit wegen mangelnder finanzieller Ausstattung und Verzögerungen bei der Ernennung seiner Mitglieder später als geplant aufnehmen konnte, stellte erste Anklageschriften aus.
Das im niederländischen Den Haag tagende Jugoslawien-Tribunal hat bis Ende des Berichtszeitraums zwölf Anklageschriften gegen 52 Personen verfaßt. Im April begann gegen den einzigen in Haft befindlichen Verdächtigen das Vorverfahren, das jedoch kurz darauf bis 1996 vertagt wurde, um der Verteidigung Gelegenheit zu geben, im ehemaligen Jugoslawien lebende Zeugen befragen zu können. Eine Klage, in der die Rechtmäßigkeit des Gerichts und die Befugnis des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zu dessen Einsetzung angefochten worden war, wurde sowohl von der erstinstanzlichen als auch von der Berufungskammer des Gerichts abgewiesen. Obgleich alle am Konflikt im ehemaligen Jugoslawien beteiligten Parteien, die Regierungen von Kroatien und der Bundesrepublik Jugoslawien ebenso wie die De-facto-Behörden der bosnischen Kroaten und der bosnischen Serben, ausdrücklich zugesichert hatten, mit dem internationalen Tribunal zusammenzuarbeiten, unternahmen sie bis Ende 1995 keine erkennbaren Anstrengungen, die in ihren jeweiligen Territorien lebenden 51 Verdächtigen, gegen die Anklageschriften vorlagen, an das Gericht zu überstellen.
Das Ruanda-Tribunal mit Sitz im tansanischen Arusha erhob im Berichtszeitraum gegen acht Personen Anklage. 50 Ermittler und Rechtsanwälte setzten ihre Untersuchungen fort, um die für den Völkermord und andere schwere Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht in Ruanda 1994 Verantwortlichen ausfindig zu machen.
Die Arbeit beider Gerichte wurde im Berichtszeitraum dadurch erschwert, daß ihnen viele Staaten keine Unterstützung gewährten. Antonio Cassese, der Präsident des Jugoslawien-Tribunals, richtete deshalb im November an die Generalversammlung der Vereinten Nationen den Appell: »Unser Gericht ist wie ein Riese, dem Arme und Beine fehlen. Damit er laufen und arbeiten kann, benötigt er künstliche Gliedmaßen. Diese künstlichen Gliedmaßen sind die Staaten. Ohne ihre Unterstützung kann das Gericht nicht tätig sein.«
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat 1995 wiederholt bekräftigt, daß die Staaten der Welt verpflichtet sind, sowohl mit dem im Mai 1993 eingesetzten Gerichtshof zum ehemaligen Jugoslawien als auch mit dem im November 1994 geschaffenen Ruanda-Tribunal zusammenzuarbeiten. Dessenungeachtet hatten bis Ende des Berichtsjahres erst 14 der 185 Mitglieder der Vereinten Nationen gesetzliche Regelungen getroffen, um ihren Polizei-, Justiz- und anderweitigen Behörden eine Kooperation mit dem Jugoslawien-Gericht zu ermöglichen. Hinsichtlich des Tribunals zu Ruanda lag die Zahl der Staaten, die den Weg für eine Zusammenarbeit mit dem Gericht gesetzlich geebnet hatten, bei nur vier. Drei Staaten erklärten Rechtsanpassungen für nicht notwendig. amnesty international rief die Regierungen der Welt erneut auf, ihre Bereitschaft zur Kooperation mit den beiden Tribunalen durch gesetzliche Vorgaben und praktisches Handeln unter Beweis zu stellen. In einigen Staaten, unter anderem in Belgien, Sambia und Zaire, nahmen die Behörden im Berichtsjahr erste Verhaftungen von Personen vor, gegen die das Gericht zu Ruanda ermittelte.
Die akute Finanzkrise der Vereinten Nationen hatte 1995 zur Folge, daß die aus dem regulären Haushalt der Vereinten Nationen sowie aus einem freiwilligen Fonds bereitgestellten Mittel für die Personal- und Sachaufwendungen der beiden Gerichte eingefroren wurden. Erst nach massiven Protesten seitens nichtstaatlicher Organisationen und einiger Regierungen entschloß man sich, diese Entscheidung zumindest vorübergehend wieder rückgängig zu machen. »Die Tätigkeit [des Gerichts zum ehemaligen Jugoslawien] ist kostenaufwendig, daran besteht kein Zweifel«, räumte Antonio Cassese vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen ein. »Aber«, so fuhr er fort, »wenn die Vereinten Nationen den Wunsch hegen, daß die Stimme der Gerechtigkeit laut und deutlich vernommen werden kann, so müssen die Mitgliedstaaten den Preis dafür zu zahlen bereit sein.« amnesty international richtete an alle Regierungen der Welt den eindringlichen Appell, die Finanzierung der Arbeit beider Gerichte langfristig zu sichern, indem sie unter anderem zusätzliche Beiträge in den freiwilligen Fonds entrichten.
»Das Leiden der Zivilbevölkerung [in Situationen bewaffneter Konflikte] ist vielfach nicht nur ein beiläufiges Element politischer und militärischer Strategien, sondern deren vorrangiges Ziel ... Es gilt, mit Entschiedenheit rechtsstaatliche Prinzipien durchzusetzen und die für abscheuliche Verbrechen Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.« Das Zitat ist dem Tätigkeitsbericht des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Boutros Boutros-Ghali, für das Jahr 1995 entnommen.
amnesty international hat stets die Position vertreten, daß es in Kriegszeiten nicht weniger wichtig ist als in Friedenszeiten, die für Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen vor Gericht zu bringen, und daß eine dauerhafte Aussöhnung nach bewaffneten Konfliktsituationen nur gelingen kann, wenn die Friedensbemühungen wesentlich darauf ausgerichtet sind, Gerechtigkeit herzustellen. Bleibt die Frage der Verantwortlichkeit für Menschenrechtsverbrechen ausgeklammert, so wird dadurch nur ein neuer Kreislauf der Gewalt und der Straflosigkeit in Gang gesetzt. Bisweilen geschieht dies bereits unmittelbar nach Beendigung der bewaffneten Auseinandersetzungen. Es können aber auch viele Jahre der scheinbaren Rückkehr zur Normalität verstreichen, bevor die alten Wunden doch wieder aufbrechen und Haß und Vergeltung um sich greifen. Wo massive Menschenrechtsverletzungen begangen worden sind, ist eine dauerhafte Aussöhnung ohne Gerechtigkeit gleichfalls zum Scheitern verurteilt. Die seit Jahrzehnten in Ruanda immer wieder aufs neue verübten Massaker belegen dies nachdrücklich.
amnesty international hat im Berichtszeitraum auf eine Reihe von Friedensverhandlungen Einfluß zu nehmen versucht, damit in den angestrebten Vereinbarungen wirksame menschenrechtliche Schutzgarantien und Mechanismen für deren Durchsetzung verankert werden. Zu den 1995 geschlossenen oder umgesetzten Friedensabkommen zählten die zu Angola, Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Liberia. Nach Auffassung von amnesty international muß als zentraler Bestandteil aller Friedenslösungen gewährleistet sein, daß die für schwere Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht Verantwortlichen persönlich für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Mit Rhetorik allein läßt sich Gerechtigkeit nicht herstellen. Politisches und finanzielles Engagement müssen hinzukommen.
Das in Dayton im US-amerikanischen Bundesstaat Ohio von den Parteien des Konflikts in Bosnien-Herzegowina ausgehandelte Friedensabkommen enthält erfreulicherweise eine Reihe von Menschenrechtsgarantien. Der Generalsekretär von amnesty international hat dies begrüßt, zugleich jedoch seiner Enttäuschung darüber Ausdruck verliehen, daß die von der NATO aufgestellte 60000 Mann starke Friedenstruppe für Bosnien (Implementation Force - IFOR) nicht ausdrücklich ermächtigt und verpflichtet worden ist, nach Personen, gegen die das internationale Strafgericht für das ehemalige Jugoslawien Anklage erhoben hat, zu fahnden und sie festzunehmen. Von den Konfliktparteien selbst konnte man angesichts ihrer vielen nicht eingehaltenen Versprechungen wohl kaum erwarten, daß sie Verdächtige ausliefern würden. Die Unterzeichnung des Abkommens von Dayton hatte bis Ende des Jahres in der Tat noch zu keiner Änderung ihrer Haltung in dieser Frage geführt.
Nachdem der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die NATO-Truppen autorisiert hatte, die Einhaltung des Friedensabkommens in Bosnien-Herzegowina nötigenfalls auch mit Gewalt durchzusetzen, wartete amnesty international vergeblich auf Auskunft, welche Regelungen und Standards für das Vorgehen der IFOR-Soldaten aufgestellt worden sind. Das Stillschweigen in dieser Frage gab der Organisation Anlaß zur Beunruhigung. amnesty international wies deshalb ausdrücklich darauf hin, daß der Einsatz militärischer Mittel bei Verstößen gegen die Friedensvereinbarungen auf keinen Fall Handlungen beinhalten darf, die geltendes internationales Recht mißachten. Die Organisation betonte, daß für die IFOR-Truppen die Grundsätze des humanitären Völkerrechts zu gelten haben und daß sie bei der Wahrnehmung von Polizeibefugnissen darüber hinaus zur Einhaltung internationaler Menschenrechtsstandards verpflichtet sind.
Wo schwere Menschenrechtsverletzungen begangen worden sind, müssen als ein erster Schritt, um dem Problem der Straflosigkeit zu begegnen, Untersuchungen zur Feststellung der Verantwortlichkeiten stattfinden. Die Wahrheit muß ans Tageslicht gebracht werden. Darauf haben die Opfer und ihre Familien sowie die Gesellschaft als Ganzes ein Anrecht.
Nach dem Putschversuch vom Oktober 1993 in Burundi, dem Attentat auf Präsident Ndadaye und den dadurch ausgelösten Massakern hatte amnesty international darauf gedrängt, eine internationale Untersuchungskommission in das Land zu entsenden. Eine solche Maßnahme, so die damalige Argumentation der Organisation, könnte wesentlich dazu beitragen, den Kreislauf der Straffreiheit in Burundi zu durchbrechen. Doch ungeachtet selbst wiederholter Bitten der burundischen Regierung, eine internationale Untersuchung der Vorgänge vom Oktober 1993 durchzuführen, setzten die Vereinten Nationen erst im August 1995 eine Ermittlungskommission ein. Diese erhielt unter anderem den Auftrag, Empfehlungen zu erarbeiten, »um die für die damaligen Taten Verantwortlichen vor Gericht zu bringen, eine Wiederholung von Vorkommnissen, wie sie Gegenstand der Ermittlungen sind, zu verhindern ... die Straffreiheit zu beenden und die nationale Aussöhnung in Burundi voranzubringen«.
Am 20.Dezember 1995 legte die Kommission dem Generalsekretär der Vereinten Nationen einen Zwischenbericht vor, in dem sie beklagte, für die Bewältigung ihrer immensen Aufgaben nicht mit den notwendigen Ressourcen ausgestattet zu sein. Der Bericht benannte die Schwierigkeiten, mit denen sich die Kommission bei ihren Recherchen vor Ort konfrontiert sah. Nicht nur die Tatsache, daß ihre Nachforschungen Vorfällen galten, die bereits mehr als zwei Jahre zurücklagen, auch die sich verschlechternde Sicherheitslage in Burundi und die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft nach ethnischer Zugehörigkeit erwiesen sich als schwerwiegendes Problem, objektive Zeugenaussagen zu erhalten. Am 29.Dezember warnte der Generalsekretär der Vereinten Nationen den Sicherheitsrat vor »der realen Gefahr, daß die Situation in Burundi einen Punkt erreicht, an dem mit dem Ausbruch ethnischer Gewalt massiven Ausmaßes gerechnet werden muß«. Seine Warnung verhallte ungehört.
Die Anwesenheit von Menschenrechtsbeobachtern vor Ort kann sich in einigen Situationen entscheidend auf die Menschenrechtslage auswirken. Vor allem in Ländern, in denen bewaffnete Konflikte stattgefunden haben oder Menschenrechtsverletzungen ungeheuren Ausmaßes begangen worden sind, kommt unabhängigen Beobachtern eine besonders wichtige Aufgabe zu. Gleiches gilt für Situationen, in denen dringender Handlungsbedarf besteht, um eine drohende Eskalation der Gewalt zu verhindern. Menschenrechtsbeobachter können wesentlich dazu beitragen, daß die für Verstöße Verantwortlichen nicht straffrei ausgehen und Regierungsstellen wie auch bewaffnete Oppositionsgruppen für ihr Handeln Rechenschaft ablegen müssen. Sie können Fällen von Menschenrechtsverletzungen nachgehen, sie gegenüber den Behörden zur Sprache bringen und weitere Übergriffe verhindern. Ihre Aufgabe kann es ferner sein, Informationen über die Menschenrechtssituation vor Ort öffentlich zu machen und beim Aufbau von Institutionen zum Schutz der Menschenrechte beratend mitzuwirken.
Die vom Hochkommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte im Jahre 1994 gestartete Initiative zur Entsendung von Menschenrechtsbeobachtern nach Ruanda (Human Rights Field Operation for Rwanda - HRFOR) erlitt im Berichtszeitraum eine Reihe von Rückschlägen. Es fehlte ihr nicht nur an Unterstützung durch die übrigen Gremien der Vereinten Nationen und die Mitgliedstaaten der Weltorganisation. Hinzu kamen unklare Prioritätenfestlegungen, Verzögerungen beim Einsatz der HRFOR-Mitarbeiter vor Ort, Defizite in der Vorbereitung des Personals auf ihre Aufgaben in Ruanda und eine unzulängliche Mittelausstattung. Trotz der genannten Widrigkeiten hat das HRFOR-Team bis Ende des Berichtsjahres wesentliche Aufgaben zum Schutz der Menschenrechte in Ruanda übernommen. Im September veröffentlichte amnesty international einen Bericht mit dem Titel Rwanda and Burundi: A call for action by the international community, der eine Reihe von Empfehlungen für ein Tätigwerden der Vereinten Nationen hinsichtlich Ruanda und Burundi enthielt. Die Organisation betonte insbesondere die Notwendigkeit, dem akuten Problem der Straflosigkeit zu begegnen. Sie rief das HRFOR-Team auf, über die bislang vertraulich geführten Untersuchungen der Massaker von 1994 einen öffentlich zugänglichen Bericht vorzulegen. Bis Jahresende war dies jedoch noch nicht geschehen. Der Arbeit des HRFOR-Stabes fehlte es zudem an einer soliden finanziellen Absicherung seitens der Vereinten Nationen, obwohl der Sicherheitsrat die Operation ausdrücklich unterstützt und der Hochkommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte wiederholt um die notwendigen Mittel nachgesucht hatte. Die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen ließen den politischen Willen vermissen, sich ernsthaft der Situation in Ruanda anzunehmen, was sich dahingehend auswirkte, daß das HRFOR-Team seine Arbeit nur mühsam und in kleinen Schritten voranbringen konnte. Gegen Ende des Berichtszeitraums drohte ihm gar der Verlust unentbehrlichen logistischen Beistandes durch die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen für Ruanda (UN Assistance Mission for Rwanda - UNAMIR), die auf Drängen der ruandischen Regierung zunächst verringert wurde und 1996 beendet werden soll.
In anderen Situationen schienen die Vereinten Nationen größere Bereitschaft aufzubringen, dem Problem der Straflosigkeit entgegenzuwirken und friedenserhaltende Missionen mit einer Menschenrechtskomponente auszustatten. Im August wurde im nigerianischen Abuja ein neuerliches Friedensabkommen zur Beendigung des viereinhalb Jahre währenden Bürgerkrieges in Liberia unterzeichnet, in dessen Verlauf von allen Konfliktparteien in krasser Weise gegen Grundsätze des humanitären Völkerrechts verstoßen worden ist, ohne daß sich die Täter - von wenigen Ausnahmen abgesehen - für ihre Verbrechen strafrechtlich verantworten mußten. amnesty international rief die neue liberianische Übergangsregierung auf, ihre Staatsgewalt geltend zu machen und die für schwere Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen vor Gericht zu bringen. An die Adresse der Wirtschaftsgemeinschaft der Westafrikanischen Staaten richtete amnesty international die Aufforderung, Bemühungen der liberianischen Seite um eine Beendigung der Straffreiheit durch die im Land stationierten Friedenstruppen der Gemeinschaft zu unterstützen. An die Vereinten Nationen erging der eindringliche Appell, in Liberia einen Mechanismus zur Untersuchung von Verstößen gegen die Menschenrechte einzurichten und sicherzustellen, daß in kurzen Abständen öffentlich zugängliche Berichte über die Menschenrechtssituation im Land vorgelegt werden. Eine Überprüfung des Mandats der Beobachtermission der Vereinten Nationen in Liberia (UN Observer Mission in Liberia - UNOMIL) durch den Weltsicherheitsrat führte im November dazu, daß die Mission zusätzlich den Auftrag erhielt, Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen und über ihre Erkenntnisse Bericht zu erstatten. amnesty international setzte sich für ein noch weitergehendes Menschenrechtsengagement der UNOMIL ein.
Im Februar beschlossen die Vereinten Nationen die Entsendung einer neuen Verifikationsmission nach Angola (UN Angola Verification Mission - UNAVEM II). In diesem Zusammenhang rief amnesty international dazu auf, eine Komponente aus zivilen Menschenrechtsbeobachtern in die Mission zu integrieren, um vor Ort Menschenrechtserziehungsprojekte durchzuführen und über die Medien die angolanische Bevölkerung mit der Arbeit der Beobachtermission vertraut zu machen. Bis Ende des Berichtsjahres war neben rund 250 zivilen Polizeibeobachtern auch eine geringe Zahl von Menschenrechtssachverständigen nach Angola entsandt worden. Ihre Aufgabe bestand unter anderem darin, Verstöße gegen die Menschenrechte zu untersuchen und Menschenrechtserziehungsprojekte zu initiieren und umzusetzen. Die Sachverständigen führten nicht nur für Regierungsbeamte, sondern auch für die Militär- und Polizeibeobachter der UNAVEM II Menschenrechtsworkshops durch.
Die am 26.Juni 1945 verkündete Charta der Vereinten Nationen beginnt mit den Worten: »Wir, die Völker der Vereinten Nationen, [sind] fest entschlossen, unseren Glauben an die Grundsätze des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen [und] Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewährt werden können ...«
Eine der wirklich bahnbrechenden Entwicklungen auf menschenrechtlichem Gebiet seit Ende des Zweiten Weltkriegs war die Bejahung der Universalität grundlegender Menschenrechte, zu deren Einhaltung ausnahmslos alle Staaten verpflichtet sind, und das Anerkenntnis, daß der internationalen Gemeinschaft nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht zukommt, bei Verstößen gegen fundamentale Menschenrechte die jeweiligen Regierungen in die Verantwortung zu nehmen. Dieser Grundsatz hat in internationalen Menschenrechtsübereinkünften seinen Niederschlag gefunden und spiegelt sich in der praktischen Zusammenarbeit der Staaten in Gremien wie der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen wider. Die Teilnehmer an der Weltmenschenrechtskonferenz der Vereinten Nationen 1993 in Wien haben ihn erneut einstimmig bekräftigt.
amnesty international hat die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen im Berichtszeitraum eindringlich ersucht, den systematischen Menschenrechtsverletzungen in Algerien, der Türkei, Kolumbien, Indonesien und Osttimor sowie Indien hinsichtlich der Situation in Dschammu und Kaschmir entgegenzutreten. Die Organisation begründete ihren Aufruf zum Handeln mit folgenden Worten: »Regierungen, die von ihren gleichberechtigten Gegenübern in der Menschenrechtskommission Rechenschaft verlangen, die sich selbst der Überprüfung ihres Handelns öffnen und auf Verstöße unverzüglich reagieren, können sehr wohl Änderungen herbeiführen. Anhaltendes Schweigen hingegen bestärkt Regierungen in dem Gefühl, daß sie die Menschenrechte mit Füßen treten können und die Welt nichts weiter unternehmen wird, als unbeteiligt zuzuschauen.«
Die Menschenrechtskommission hat die Situation in Indonesien erneut nicht als handlungsbedürftig zur Kenntnis nehmen wollen. Erst nach langwierigen Verhandlungen hat sie einer Erklärung ihres Vorsitzenden zugestimmt, in der tiefe Besorgnis über die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen in Osttimor zum Ausdruck gebracht wurde.
Auch in bezug auf Kolumbien konnte sich die Menschenrechtskommission nicht darauf verständigen, einen Sonderberichterstatter zu ernennen, um den extralegalen Hinrichtungen, dem »Verschwindenlassen« und dem Problem der Straffreiheit zu begegnen. Statt dessen trug der Kommissionsvorsitzende ein Schreiben der Ständigen Vertretung Kolumbiens in Genf vor, in dem unter anderem die Bitte geäußert wurde, daß die Themensachverständigen der Kommission in Kolumbien »geregelte Besuche« durchführen.
Kaum anders verhielten sich die Kommissionsmitglieder hinsichtlich der Situation im indischen Bundesstaat Dschammu und Kaschmir. In dem Versuch, eine neutrale Haltung in der von Konfrontation bestimmten Dschammu-und-Kaschmir-Frage zu wahren, blieb die Kommission untätig, anstatt Anstrengungen darauf zu richten, die akute Politisierung des Themas zu durchbrechen und der Menschenrechtsproblematik in dem indischen Bundesstaat Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Die sich verschlechternde Menschenrechtslage in Algerien und der Türkei wurde von der Kommission gleichfalls ignoriert.
Einige Mitglieder der Menschenrechtskommission rechtfertigten ihre Tatenlosigkeit mit dem Argument enger kultureller oder wirtschaftlicher Beziehungen zu dem jeweiligen Land oder verwiesen auf dessen strategische Bedeutung. Andere machten für sich »konstruktives Engagement« geltend, was allzu oft lediglich eine Ausrede darstellt, um sich aus der Verantwortung, die sie als Mitwirkende im wichtigsten Menschenrechtsgremium der Vereinten Nationen tragen, zu stehlen.
Die Volksrepublik China entging 1995 nur knapp einer Verurteilung durch die Menschenrechtskommission, da ein entsprechender Resolutionsentwurf mit gerade einer Stimme Mehrheit abgelehnt wurde. Zuvor waren Versuche der chinesischen Seite gescheitert, eine Abstimmung über den Entwurf mittels Geschäftsordnungsanträgen zu verhindern. In den vorausgegangenen vier Jahren hatte sie mit diesen Versuchen noch stets Erfolg gehabt.
Nach der Hinrichtung von Ken Saro-Wiwa und acht weiteren Aktivisten der Volksgruppe der Ogoni im November in Nigeria, die weltweit eine Welle der Empörung auslöste, plädierten eine Reihe von Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen für eine entschiedene Reaktion. amnesty international rief in diesem Zusammenhang die Generalversammlung der Weltorganisation auf, die Menschenrechtskommission mit einem Mandat zur Untersuchung der systematischen Menschenrechtsverletzungen in dem westafrikanischen Land auszustatten. Trotz vehementer Einwände der nigerianischen Regierung gegen ein mögliches Tätigwerden der Vereinten Nationen, das sie als Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten zurückwies, verabschiedete die Generalversammlung im Dezember eine Resolution, in der die Menschenrechtskommission um sofortiges Handeln ersucht und zu Ermittlungen durch die Themensachverständigen der Kommission aufgerufen wurde.
Im Berichtszeitraum konnte amnesty international erstmals als Gast an der Versammlung der Staats- und Regierungschefs der Organisation für Afrikanische Einheit (Organization of African Unity - OAU) teilnehmen, die im Juni im äthiopischen Addis Abeba stattfand. amnesty international appellierte erneut an die OAU, ein von ihr bereits 1994 erarbeitetes Sechs-Punkte-Programm zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte umzusetzen (siehe Jahresbericht 1995).
Die Afrikanische Menschenrechtskommission, ein Sachverständigengremium mit Berichtspflicht gegenüber der Versammlung der OAU, hat im Berichtszeitraum ihre Kapazitäten weiter ausgebaut, um in Situationen, in denen Regierungen systematisch schwere Menschenrechtsverletzungen begehen, effektiv reagieren zu können. Im März, nur wenige Tage nachdem die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen in einer Resolution die systematischen Verstöße gegen die Menschenrechte im Sudan mit deutlichen Worten kritisiert hatte, rief auch die Afrikanische Kommission die sudanesische Regierung auf, »unverzüglich Maßnahmen zur Wahrung aller Menschenrechte zu ergreifen«, Verstöße zu untersuchen und die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen. Im Dezember traf die Afrikanische Kommission erstmals seit ihrem Bestehen zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen, um über die Situation in einem Mitgliedstaat der OAU, nämlich Nigeria, zu beraten. Sie gab ihrer tiefen Sorge über die Vorgänge in Nigeria Ausdruck und beschloß, 1996 eine Mission in das Land zu entsenden.
Bisweilen ist es allein dem mutigen Einsatz von Menschenrechtsaktivisten zu verdanken, daß für Verstöße gegen die Menschenrechte verantwortliche Regierungen und deren Vertreter für ihr Handeln zur Rechenschaft gezogen werden können. Ihre unermüdliche Suche nach der Wahrheit und ihr kompromißloser Kampf gegen die Straflosigkeit ist so manchem Machthabenden ein Dorn im Auge. Insofern mag es auch nicht verwundern, daß sich Regierungen bislang nicht darauf haben verständigen können, Garantien zum Schutz von Menschenrechtlern zu verankern. Nach zehnjährigen Beratungen war es einer Arbeitsgruppe der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen noch immer nicht möglich, einen Textentwurf für eine Deklaration über die Rechte und Pflichten von Einzelpersonen, Gruppen und gesellschaftlichen Institutionen zur Förderung und zum Schutz universell anerkannter Menschenrechte und Grundfreiheiten vorzulegen.
Die meisten Rechte, deren Wahrnehmung menschenrechtliches Engagement erst ermöglicht, sind bereits international und für alle Menschen gleichermaßen gesetzlich garantiert und geschützt, so beispielsweise die Rechte auf freie Meinungsäußerung und auf Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Doch Regierungen legen oftmals sehr viel Erfindungsreichtum an den Tag, um die praktische Ausübung dieser Rechte einzuschränken. Angesichts der vielfältigen Formen der Repression und der bisweilen gewaltsamen Unterdrückung von Menschenrechtsarbeit durch Regierungen und ihre Vertreter muß es deshalb Ziel der oben erwähnten Deklaration sein, die Rechte aller Menschenrechtsaktivisten zu stärken.
Die Beratungen über den Deklarationsentwurf waren bislang von ständigen Spannungen begleitet. Dabei verliefen die Fronten zwischen denjenigen Regierungen, die den Schutz von Menschenrechtlern voranzubringen und die für ihre Arbeit unerläßlichen Rechte festzuschreiben versuchen, sowie jenen, welche Menschenrechtsaktivisten Einschränkungen, Restriktionen und Pflichten auferlegen wollen, die sie praktisch handlungsunfähig machen würden. Vor allem Kuba, China, Syrien und Mexiko brachten 1994 und 1995 immer neue Vorschläge in die Diskussion, die darauf abzielten, Menschenrechtsarbeit zu erschweren. Obwohl die vorrangige Rolle von Menschenrechtsaktivisten darin besteht, für andere einzutreten, versuchte Kuba mit Unterstützung Chinas, eine Formulierung in den Deklarationsentwurf hineinzuschreiben, die dahingehend ausgelegt werden kann, als dürften Menschenrechtler nur ihre eigenen Rechte verteidigen. In der Praxis hätte dies als ein Beispiel womöglich zur Konsequenz, daß Menschenrechtsaktivisten nur dann, wenn sie selbst gefoltert worden sind, gegen ihre Behandlung Beschwerde einlegen, nicht jedoch zugunsten anderer Folteropfer tätig werden können.
amnesty international mißt dem Schutz von Menschenrechtlern einen hohen Stellenwert bei. Im August veröffentlichte die Organisation einen Bericht mit dem Titel Breaching the walls of silence: Issues at stake in the UN draft Declaration on human rights defenders, in dem sie alle Regierungen der Welt aufrief, sich auf einen wirkungsvollen Deklarationsentwurf zu einigen und ihn unverzüglich zu verabschieden.
Verantwortliches Handeln ist nicht erst dann gefragt, wenn bereits schwere Menschenrechtsverletzungen begangen worden sind. Es gilt vielmehr, vorbeugend Mechanismen zum Schutz der Menschenrechte zu schaffen, um Probleme rechtzeitig erkennen und Verstöße verhindern zu können. Der Entwurf eines Zusatzprotokolls zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe zielt in genau diese Richtung. Er sieht vor, für alle Haftorte ein weltweites Inspektionssystem einzuführen, um auf diese Weise Folterungen und Mißhandlungen präventiv entgegenzuwirken. Nach den bisher erarbeiteten Vorschlägen soll einem Unterausschuß des Anti-Folter-Komitees der Vereinten Nationen die Aufgabe zukommen, diejenigen Praktiken und Verfahrensweisen auszumachen, die Folterungen und Mißhandlungen Vorschub leisten, um anschließend in vertraulichen Gesprächen mit betroffenen Regierungen geeignete Abhilfemaßnahmen zu erörtern.
Es fehlt nicht an internationalen Standards, die Folterungen und Mißhandlungen untersagen. Als Problem erweist sich vielmehr die wirksame Durchsetzung dieser Standards. Die Arbeiten an einem Zusatzprotokoll zur Anti-Folter-Konvention, das im übrigen erstmals 1980 von Costa Rica in der Menschenrechtskommission angeregt worden ist, stellen einen Versuch dar, dem Problem beizukommen. Bei dem im Gespräch befindlichen Unterausschuß würde es sich nicht um eine gerichtsähnliche Instanz mit dem Auftrag, Foltervorwürfe aufzuklären, handeln. Seine Aufgabe bestünde im wesentlichen darin, sich vor Ort ein Bild über die Haftbedingungen zu machen, um bestimmte Praktiken zu benennen, die Folterungen und Mißhandlungen begünstigen.
Im Berichtszeitraum trat eine Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen im vierten Jahr zusammen, um Konsens über den Wortlaut des angestrebten Zusatzprotokolls zu erzielen. Bedauerlicherweise versuchte dabei eine kleine Gruppe von Staaten, den Entwurf in einigen seiner Kernaussagen zu verwässern. So wurden Einwände gegen eine Verankerung des Rechts des Unterausschusses geltend gemacht, in einem jeden Vertragsstaat des Zusatzprotokolls Inspektionsbesuche durchführen zu können, ohne hierfür im Vorfeld jeweils eine Genehmigung der betreffenden Regierungen einholen zu müssen. Auch gegen die Befugnis des Ausschusses, öffentliche Stellungnahmen abzugeben oder den von ihm angefertigten Bericht publik zu machen, falls die Behörden des besuchten Staates sich der Zusammenarbeit verweigern, wurde Widerspruch laut. Ein weiterer strittiger Punkt war der Vorschlag, im Protokoll festzuschreiben, daß die Vertragsstaaten keine Vorbehaltsklauseln gegen einzelne seiner Bestimmungen hinterlegen dürfen. Zusammen mit einigen anderen nichtstaatlichen Organisationen nahm amnesty international an den Sitzungen der mit der Vorbereitung des Zusatzprotokolls befaßten Arbeitsgruppe teil und brachte Empfehlungen ein, die auf Erfahrungen basierten, die amnesty international in den mehr als 30 Jahren ihres Bestehens in ihrem Kampf gegen die Folter hat sammeln können. Die Organisation ruft die Regierungen rund um den Erdball auf, an der für Anfang 1996 anberaumten zweiten Lesung des Protokollentwurfs teilzunehmen, die noch vorhandenen Differenzen beizulegen und ein wirksames und weltweites System zum Schutz vor Folterungen und Mißhandlungen zu errichten.
Frauenrechte sind Menschenrechte, so lautete die unmißverständliche Botschaft der Vierten Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationen, die vom 4. bis 15.September in Peking stattfand. Daß Regierungen sich für Verstöße gegen diese Rechte verantworten müssen, war wesentlicher Bestandteil der Botschaft.
An den Vorbereitungen zur Weltfrauenkonferenz hat amnesty international aktiv mitgewirkt. Die ersten Entwürfe für eine von den Konferenzteilnehmern zu verabschiedende Aktionsplattform enthielten nur vereinzelt Aussagen über die Menschenrechte von Frauen und verwiesen an keiner Stelle auf die Verantwortung von Regierungen, Menschenrechtsverletzungen an Frauen und jungen Mädchen zu verhindern und ihnen Einhalt zu gebieten. amnesty international hat deshalb im Vorfeld der Konferenz ein Positionspapier mit dem Titel »Gleichberechtigung bis zum Jahr 2000?« veröffentlicht, in dem sie zehn konkrete Vorschläge unterbreitete, damit Menschenrechtsthemen in die Aktionsplattform Eingang finden. Die Empfehlungen betrafen im wesentlichen folgende Bereiche: Menschenrechte von Frauen, Gewalt gegen Frauen und Übergriffe gegen Frauen in bewaffneten Konfliktsituationen.
Während des letzten Vorbereitungstreffens zur Weltfrauenkonferenz, das im März 1995 in New York stattfand, wurden die meisten der Empfehlungen von amnesty international vollständig oder teilweise aufgegriffen, über die wirklich entscheidenden Punkte indes konnte keine Einigung erzielt werden, so daß die Beratungen darüber auf die Konferenz selbst vertagt werden mußten. Die Teilnehmer des Vorbereitungstreffens erzielten immerhin Konsens über einen Textentwurf über Gewalt gegen Frauen, der in seinen Formulierungen an die Erklärung der Vereinten Nationen über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen angelehnt war und die dort enthaltene Definition von staatlicher Gewalt gegen Frauen als staatliche oder staatlich geduldete, körperliche, sexuelle und psychologische Gewalt, gleich wo sie vorkommt, übernahm.
Auch während der Weltfrauenkonferenz selbst setzte sich amnesty international bei den teilnehmenden Regierungen dafür ein, eine Reihe von Punkten in die Aktionsplattform aufzunehmen, über die noch äußerst kontrovers diskutiert wurde. Die Organisation sprach sich entschieden gegen Versuche aus, den Grundsatz der Universalität und der Unteilbarkeit aller Menschenrechte, wie er 1993 von der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz bekräftigt worden war, auszuhöhlen. Erstaunlicherweise war gerade dieser Punkt besonders umstritten. Erst nach zähen Verhandlungen konnte man sich darauf einigen, den Grundsatz der Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte festzuschreiben. In dem schließlich verabschiedeten Abschlußdokument, der Aktionsplattform, sind die von amnesty international im Vorfeld und während der Konferenz unterbreiteten Empfehlungen weitgehend berücksichtigt. Nun liegt es an den Regierungen, die von ihnen eingegangenen Verpflichtungen einzulösen.
amnesty international zählte des weiteren zu den Teilnehmern des Forums nichtstaatlicher Organisationen, das vom 30.August bis zum 8.September in Huairou - rund 50 Kilometer außerhalb Pekings - tagte. Das Forum trug dazu bei, die Zusammenarbeit unter den Frauenorganisationen und den Austausch zwischen Frauengruppen und Menschenrechtsvereinigungen zu stärken. Beides muß weiter ausgebaut werden, um sicherzustellen, daß die von der Weltfrauenkonferenz verabschiedete Aktionsplattform in ein wirksames Programm zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte von Frauen einmündet.