Viele Leute reden zwar recht beiläufig von Lhagthong und in verschiedenen Traditionen wird es sogar von Meditationsanfängern verwendet. Der Ausdruck Lhagthong [oder in Sanskrit: Vipashyana] wird aber für zwei verschiedene Ebenen von Praxis verwendet, und hier – auf dem Mahamudra-Weg –bezieht er sich auf eine sehr fortgeschrittene Praxis. Auf höchster Ebene ist Lhagthong sogar nicht verschieden von der Bewußtheit eines Buddha. Es ist also keineswegs etwas Gewöhnliches.
Aus der Sicht der Diamantwegs-Philosophie wird sogar die hochentwickelte Logik des Madhyamaka und die der anderen philosophischen Schulen des Buddhismus als verschiedene Arten von Lhagthong angesehen.
Obwohl Shine- und Lhagthong-Meditation zusammenhängen, wird Shine im allgemeinen mit der Entstehungsphase [tib.: Kyerim] und Lhagthong mit der Verschmelzungsphase [tib.: Dzogrim] der Diamantwegsmeditationen in Beziehung gesetzt. Lhagthong ist also wirklich als eine sehr fortgeschrittene Meditationsform anzusehen.
Wenn man als Anfänger den Zustand seines Geistes untersucht, wird man erkennen, daß er noch verunreinigt ist. Durch logische Untersuchung kann man die Ursache dieser geistigen Verwirrung entdecken. Diese Suche wird unweigerlich zu der Einsicht führen, daß sowohl innere als auch äußere Phänomene, geistige Empfindungen und Sinneswahrnehmungen, keine Substanz haben und nicht wirklich existent sind.
Durch diese logische Untersuchung kann man erkennen, daß all die äußeren – scheinbar wirklich existierenden – Objekte nur ein Ausdruck von verwirrten Geisteszuständen sind; sie existieren überhaupt nicht in der Weise, wie wir gewöhnlich glauben, sondern sind nichts weiter als Projektionen des Geistes. Da man in der Welt der äußeren Phänomene das Gesetz von Ursache und Wirkung beobachten kann, sagt der Mahayana-Buddhismus, daß ein Verständnis hiervon die Grundlage für alle weiteren philosophischen Sichtweisen ist.
In unserem jetzigen Zustand erleben wir immer nur die relative Wirklichkeit, das heißt: Wir halten vorübergehende geistige Ereignisse – oder, in anderen Worten: äußere Phänomene – für wirklich. Obwohl ihre Natur illusorisch ist wie Traumbilder, werden wir so von diesen Illusionen beherrscht. Wenn der Geist durch Meditation mehr und mehr seine eigene Natur erkennt, können wir diese Tendenz allmählich überwinden. Die äußeren Illusionen kommen dann stufenweise unter bewußte Kontrolle und dienen dann sogar der Vertiefung der Meditation. Bodhisattvas sind Wesen, die diese leere Natur der Dinge erkannt und vollkommenes Mitgefühl für alle Wesen kultiviert haben. Sie sind in der Lage, die Illusionen zu nutzen und zu transformieren, um spontan die Bedürfnisse der fühlenden Wesen zu befriedigen. Darüber hinaus können sie sich gleichzeitig in verschiedenen Bereichen manifestieren, um die Wesen anzuleiten. Buddha Amitabha beispielsweise manifestierte das Reine Land Dewatschen und zeigt sich zugleich überall dort, wo es für ihn passend ist. Er ist dazu in der Lage, weil er völlige Kontrolle über die Realität hat. Er ist wie ein Arzt, der jede Krankheit mit genau der richtigen Medizin heilen kann.
Die Ebene eines Buddha wie Amitabha ist sehr hoch, aber es können sich auch auf früheren Stufen schon große Fähigkeiten zeigen. Ein Praktizierender, der die »Sechs Lehren von Naropa« gemeistert hat, beherrscht zum Beispiel das »Bewußte Träumen«. Indem er im Traum bewußt bleibt, erlangt er die Fähigkeit, die Kräfte im Traum – die nicht so starr fixiert sind wie im Wachzustand – zu beeinflussen. Durch Praxis können sie geistig kontrolliert werden. Ein hoch verwirklichter Praktizierender ist fähig, diese Bewußtheit auszudehnen und auch die Kräfte des Alltagslebens zu manipulieren. Aus diesem Grunde sind Bodhisattvas auf der ersten und zweiten Stufe, die die Fähigkeit der freien Manifestation erlangt haben, in der Lage, großen Nutzen für die Wesen zu bewirken; wenn auch nicht in dem Maße wie Buddhas.
Die Untersuchung beginnt mit ganz einfachen Beobachtungen. Zum Beispiel sehen wir, daß der Geist nichts Physisches ist, denn er hat Qualitäten, die von anderer Art sind als die des Gehirns, welches gesehen und berührt werden kann. Der Geist ist aber auch kein Nichts, sondern eine lebendige Gegenwart – lebhaft und dynamisch. Seine eigentliche Natur ist offen, klar und ungehindert und wir können wir den Geist in zwei Aspekte unterteilen:
Der erste davon ist der Zustand, dessen wir uns jetzt bewußt sind:
Der ständige Strom entstehender und vergehender Gedanken – jeder für sich, getrennt vom vorhergehenden. Versucht einmal, die innerhalb von sechzig Sekunden auftauchenden Gedanken zu zählen! Ihr werdet sehen, daß sehr viele Gedanken entstehen und vergehen. Sie sind keine solide Entität, und es ist unmöglich, ihr Entstehen und Vergehen anzuhalten.
Versucht einmal, all die Farben zu zählen, die ihr in diesem Moment vor euch seht. Der Geist fängt jede einzelne Farbe ein, ohne sich aber auf jede speziell auszurichten. Jede Farbe ist Ursache eines neuen Gedankens. Was bliebe übrig, wenn alle Gedanken beseitigt würden?
Der zweite Aspekt des Geistes ist das, was sich eher auf sich selbst anstatt auf äußere Objekte richtet. Wenn dies geschieht, wird nichts durch die Sinnesbewußtseinsarten gesehen, gehört, geschmeckt, gerochen oder gefühlt. Die Bewußtheit wird völlig befreit von jeglicher Art von Gebundenheit, und infolgedessen wird der Bereich geistigen Sehens, Hörens etc. weit ausgedehnt, und es entstehen die fünf höheren Arten bewußter Sinneswahrnehmung.
Wenn sich dann mühelose Konzentrationsfähigkeit entwickelt, können Störgefühle wie Stolz und Eifersucht untersucht werden – aus äußeren Konzentrationsobjekten werden jetzt innere. Die eigentliche Wurzel des Haftens an der Realität als etwas wahrhaft Vorhandenem kann zwar erst auf sehr hohen Stufen von Einsichtsmeditation entfernt werden; es ist jedoch schon auf frühen Stufen möglich, die Störgefühle zumindest teilweise in den Griff zu bekommen.
Shine-Meditation ermöglicht schon zu Anfang, emotionale Schwierigkeiten im Leben zu glätten, denn man lernt, jede Emotion einzeln entstehen zu sehen. Dadurch versteht man, daß sie nicht wirklich besteht, sondern nur ein geistiges Ereignis ist. Wenn der Geist fähig ist, die Leerheit der Emotionen zu erkennen, existieren sie nicht mehr wirklich.
Die Meditation der Geistesruhe hat für sich allein jedoch nicht die Kraft, von dem Gesetz von Ursache und Wirkung zu befreien; Karma als der unaufhörliche Fluß von Ursache und Wirkung geht also weiter.
Um nicht durch zuviel frustierende Erlebnisse sein geistiges Gleichgewicht zu verlieren, ist es hilfreich, im täglichen Leben Disziplin zu üben, indem man zum Beispiel auf die Nahrungsaufnahme achtet. Wenn man schon die fortgeschrittene Meditation der Einsicht üben kann, können karmische Störungen einen nicht mehr besonders beeinträchtigen; auf der Ebene der Shine-Meditation jedoch sehr wohl noch. Was kann man da tun?
Das Bodhisattvagelübde ist der starke und ernsthafte Wunsch, alle Wesen von den Leiden Samsaras zu befreien. Es ist nützlich, sich in Erinnerung zu rufen, daß alle Wesen ausnahmslos einmal unsere Verwandten waren. In der einen oder anderen früheren Existenz waren sie alle einmal unsere Mütter und Väter und zeigten uns unermeßliche Güte. Diese Sichtweise verändert unsere Praxis: Die persönliche Motivation zum Erlangen der Befreiung wird durch Mitgefühl umgewandelt, und dies ist tatsächlich der schnellste und direkteste Weg zum Erlangen der Erleuchtung. Wie das? Weil diese Motivation die Ausrichtung unserer Gedanken von Anfang an mit der eines Buddha in Übereinstimmung bringt. Wenn man das Bodhisattva-Gelübde nimmt, verspricht man, mit seinem Verhaltens dem Lebensstil eines Bodhisattvas zu folgen. Das Gelübde bezieht sich jedoch nicht nur auf unsere äußere Aktivität, sondern auch auf die innere Einstellung. Wenn es sorgfältig gehalten und niemals gebrochen wird, entsteht eine immense Kraft, die alle möglichen Arten von emotionalen Störungen und Unterbrechungen unserer Praxis überwältigt.
Shantideva sagte im Bodhicaryavatara: »Dieses Gelübde zu nehmen, schützt vor allen Arten von Hindernissen.« Deswegen sollte man sich ständig bemühen, das Gelübde aufrecht zu halten und es regelmäßig innerlich erneuern, vor allem wenn man merkt, daß man es gebrochen hat. Zorn, Eifersucht und Stolz sind die Hauptfaktoren, die unsere Selbstverpflichtung und Überzeugung schwächen.
Wenn man das Gelübde genommen hat, sollte man sein Bestes geben, um es zu halten, aber es werden natürlich Schwierigkeiten entstehen, besonders zu Anfang. Es ist fast unvermeidbar, daß man falsche Gedanken, Worte und Taten haben wird. Als Heilmittel ist es dann nützlich, täglich dreimal das »Sutra der Drei Ansammlungen« zu rezitieren, dabei die 35 Buddhas zu visualisieren und an das Wohlergehen aller fühlenden Wesen zu denken. In dieser Weise wird das Gelübde aufrechterhalten. [Anmerkung: In anderen Belehrungen dieser Art empfiehlt auch Shamar Rinpoche, wie die meisten unserer Lehrer, als Reinigungspraxis die Rezitation des hundertsilbigen Diamantgeist-Mantras.]
Abschließend möchte ich jeden ermutigen, zu bedenken, wie wichtig Meditation ist. Wenn wir uns der Kürze unseres Lebens bewußt sind, werden wir große Inspiration zur Praxis empfinden, aber es sind wir selbst, die entscheiden müssen, daß es wichtig ist. Ein anderer wichtiger Punkt ist, die Bedeutung eines geistigen Führers zu sehen. Da wir einer Tradition folgen, brauchen wir jemanden, der uns anleitet. Es wird euch großen Nutzen bringen, wenn ihr euch auf einen authentischen Lehrer stützt.
Mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift »Knowledge in Action« (KIBI).
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