Diese Lieder sind der spontane Ausdruck seiner direkten Einsicht in die wahre natur der Dinge. Sievermitteln die Belehrungen Milarepas und vermögen auch heute die Praktizierenden durch ihre poetische Kraft und Schönheit zu bezaubern.
Der folgende Gesang entstammt einer »Konversation« in Liedform mit der Dämonin Drangsinmo, die Milarepa eines Nachts in einer Höhle bei Linba attackierte. Milarepa war von ihrer Klugheit beeindruckt und sie ihrerseits entwickelte durch das Hören seiner Belehrungen tiefes Vertrauen in ihn.
Sie legte ein Gelübde ab, von nun an die Meditierenden zu beschützen und kehrte am nächsten Tag mit vielen ihrer Brüder und Schwestern zurück, um Belehrungen von Milarepa zu erbitten. Milarepa sang ihnen das folgende Lied:
Buchauszug aus »Milarepas gesammelte Vajra-Lieder« aus dem Theseus Verlag:
Meister, ein Buddha in Menschengestalt, Übersetzer, dessen Name schwer auszusprechen ist, Vor dir, gütiger Vater, verbeuge ich mich! Ich bin zwar kein vedischer Sänger, Doch du Dämonin sagst, sing ein Lied, sing ein Lied! Deshalb singe ich nun diese Verse über die wahre Natur der Dinge. Donner, Blitz und Wolken kommen aus dem Himmel Und lösen sich wieder im Himmel auf. Regenbogen, Nebel und Dunst kommen aus dem Raum Und lösen sich wieder im Raum auf. Nektar, Körner und Früchte kommen aus der Erde Und lösen sich wieder in der Erde auf. Wälder, Blumen und Blätter kommen aus den Hügeln Und lösen sich wieder in den Hügeln auf. Flüsse, Wasserblasen und Wellen kommen aus dem See Und lösen sich wieder im See auf. Gewohnheiten, Anhaftungen und Fixierungen kommen aus dem Allgrund des Geistes Und lösen sich wieder im Allgrund auf. Selbstgewahrsein, Eigenstrahlkraft und Selbstbefreiung kommen aus der Natur des Geistes Und lösen sich wieder in der Natur des Geistes auf. Alles ist ungeboren, unbehindert und unaussprechlich, Es kommt aus der absoluten Natur Und löst sich wieder in der absoluten Natur auf. Dämonen wahrnehmen, daran haften und sich vor ihnen fürchten, Dies kommt vom Yogi. Und löst sich wieder im Yogi auf. So sind alle Dämonen das Zauberspiel des Geistes. Erkennt der Yogi nicht, daß diese Eigenerscheinungen offen-leer sind, Und hält Dämonen für wirklich, dann erliegt er der Täuschung. Die Wurzel der Täuschung aber liegt im Geist. Erkennt man die wahre Natur des Geistes, Dann sieht man, daß er strahlend klar ist, frei von Kommen und Gehen. Der Geist mißversteht Erscheinungen als äußere Objekte. Untersucht man jedoch ihr eigentliches Wesen, Erkennt man, daß Erscheinungen und Offenheit untrennbar sind. Meditation ist ein Konzept, Nicht-Meditation ist ebenfalls ein Konzept, Meditation und Nicht-Meditation sind nicht trennbar. Die dualistische Sichtweise ist die Grundlage der Täuschung, Während die letztendliche Wahrheit jenseits jeder Sichtweise liegt. Wollt ihr das Wesen des Geistes verstehen, Nehmt den Himmel als Beispiel, Dann werdet ihr euch klar über den Sinn der absoluten Natur. Betrachtet, was mit dem Verstand nicht greifbar ist – das ist die Mahamudra-Sicht. Ohne Ablenkung zu sein – das ist die Meditation. Beim Handeln meidet nichts, und nehmt alles, wie es kommt. Gebt Hoffnung und Furcht auf – das ist die Frucht. Danach richtet euch bei eurer Übung, Dämonen! Ich habe keine Zeit, nichtssagende Gesänge zu verbreiten, Stellt nicht viele Fragen, sondern verweilt im Schweigen! Weil ihr Dämonen ein Lied wolltet, habe ich eins gesungen. Nun, dies sind meine verrückten Worte. Seht, ob ihr sie in die Praxis umsetzen könnt, Dämonen! Laßt großes Glück eure Speise sein, Reinen Nektar euren Trank, Und verrichtet eure Arbeit, indem ihr den Yogis beisteht!« So sang er. Dragsinmo und ihr Gefolge faßten tiefes Vertrauen zu ihm. Sie verbeugten sich und gingen viele Male respektvoll um ihn herum, bedankten sich und verschwanden dann, indem sie sich wie ein Regenbogen auflösten. Wie der Jetsün es ihnen befohlen hatte, richteten die Dämonen von da an keinen Schaden mehr an, sondern standen allen großen Meditierenden dieses Ortes bei.
Mein Bewußtsein, ein Kind der Täuschung, Wandert in den sechs Daseinsbereichen, den Stätten der Täuschung, Und erfährt die verschiedensten karmischen Täuschungen. Manchmal erlebe ich die Täuschung des Hungers; Dann esse ich erbettelte Nahrung; Manchmal bin ich asketisch und esse Steine; Zuweilen nehme ich Offenheit als Nahrung zu mir; Dann wieder versuche ich, so gut es geht, den Hunger zu ertragen. Manchmal erlebe ich die Täuschung des Durstes; Dann trinke ich das blaue Wasser, das die Berghänge herunterplätschert; Manchmal nehme ich mein eigenes Wasser zu mir; Zuweilen trinke ich das Wasser des Mitgefühls, Dann wieder den Segensnektar der Dakinis. Manchmal erlebe ich die Täuschung des Frierens; Dann trage ich eine Baumwollrobe als Bekleidung; Zuzeiten lodert die wohltuende Tummo-Wärme; Dann wieder versuche ich, so gut es geht, die Kälte zu ertragen. Manchmal erlebe ich die Täuschung der Sehnsucht nach Freunden; Dann halte ich mich an das Urbewußtsein als Freund Und übe die zehn tugendhaften Handlungen, verweile in derin der reinen Sichtweise Und erforsche tief den selbstgewahren Geist. Ich Yogi bin ein Löwe unter den Menschen; Die vortreffliche Sicht ist meine volle türkisfarbene Mähne, Die vortreffliche Meditation meine Reißzähne und Krallen. Auf den Gipfeln der Schneeberge übe ich meine Praxis Und möchte die Frucht mit all ihren guten Eigenschaften erlangen. Ich Yogi bin ein Tiger unter den Menschen; Meine Stärke ist der vollständig entwickelte Erleuchtungsgeist. Methode und Weisheit, untrennbar eins, sind meine lächelnden Schnurrhaare, Strahlende Klarheit ist der Dschungel voller Arzneipflanzen, in dem ich lebe, Mein Ziel ist, daß ich zum Nutzen der anderen wirken kann. Ich Yogi bin ein Adler unter den Menschen; Klare Visualisierungen sind meine mächtigen Schwingen, Und Stabilität in den Vollendungsmethoden ist die Geschmeidigkeit meiner Flügelfedern. Beide vereinend, segle ich im Raum der absoluten Natur, Schlafe auf dem Felsen des wahren Sinnes Und möchte als Frucht die beiden Ziele erreichen. Ich Yogi bin ein Erwachter unter den Menschen; Ich bin Milarepa und hafte nicht an den Erscheinungen. Ich habe keine Pläne, bin ein heimatloser Yogi ohne jedes Ziel. Ich bin ein Almosenempfänger, der nichts zu essen hat, Ein nackter Asket, der keine Kleider besitzt, Ein besitzloser Bettler, der nichts auf äußere Erscheinungen gibt. Ich handle ohne Berechnung Und bin ein Narr, der glücklich ist, wenn der Tod kommt. Bin jemand, der nichts hat und nichts braucht. Nur weil ihr glaubt, eure Bedürfnisse befriedigen zu müssen, Nehmt ihr Menschen Leiden und Schwierigkeiten in Kauf. Ich brauche keinen Wohltäter, geh wieder nach Hause. Der Yogi nimmt, was immer kommt. Denke daran, freigebig zu sein Und mit guter Absicht tugendhaft zu handeln. Mögest du lange leben, niemals krank werden Und das Glück eines kostbaren Menschenkörpers genießen. Mögen wir uns im nächsten Leben in den reinen Gefilden wiedertreffen, Die wahre Dharma-Lehre praktizieren Und dann zum Wohl der anderen wirken.«
Ich verbeuge mich zu Füßen meines Vaters, dem wunscherfüllenden Juwel. gewähre deinen Segen, daß deine Kinder geeignete Bedingungen finden, Und führe uns zur Gewißheit, Daß der eigene Körper ein Palast der Gottheit ist. Weil ich einstürzende Häuser fürchtete, errichtete ich das Haus der offenen absoluten Wirklichkeit. Jetzt habe ich keine Sorge mehr, daß es einstürzt. Weil ich Kälte fürchtete, verschaffte ich mir das Kleidungsstück der Tummo-Wärme. Jetzt fürchte ich mich nicht mehr vor Kälte. Weil ich Armut fürchtete, suchte ich den Schatz der sieben edlen Reichtümer. Jetzt fürchte ich mich nicht mehr vor Armut. Weil ich Hunger fürchtete, verschaffte ich mir die Nahrung der tiefen Meditation in der letztendlichen Wirklichkeit. Jetzt fürchte ich mich nicht mehr vor Hunger. Weil ich Durst fürchtete, Besorgte ich mir die Ambrosia der Achtsamkeit als Getränk. Jetzt fürchte ich mich nicht mehr vor Durst. Weil ich Traurigkeit fürchtete, Suchte ich mir das Glück der Offenheit als beständigen Freund. Jetzt fürchte ich mich nicht mehr vor Traurigkeit. Weil ich Irrtümer fürchtete, suchte ich den breiten Weg der Einheit. Jetzt fürchte ich nicht mehr, in die Irre zu gehen. Ich Yogi besitze alle Schätze, die man sich nur wünschen kann, Und bin glücklich, wo immer ich lebe! In der Tigerhöhle von Senge-dzong in Yolmo Ist das Tigergebrüll angsteinflößend. Es zwingt mich unwillkürlich zu strikter Zurückgezogenheit. Für die sich im Spiel tummelnden Tigerjungen empfinde ich Mitgefühl; Es bringt mich ganz von selbst dazu, den Erleuchtungsgeist zu praktizieren. Die Schreie der Affen gehen mir zu Herzen; Durch sie werde ich unwillkürlich mit Entsagung erfüllt. Das Geschrei der Affenjungen ist zum Lachen; Es bringt mich ganz von selbst dazu, den Erleuchtungsgeist zu üben. Die lieblichen Kuckucksrufe machen mich traurig, Sie lassen mich unwillkürlich Tränen vergießen. Das Lerchengeträller ist lieblich für's Ohr, Es läßt mich unwillkürlich zuhören. Die verschiedenen Krähenrufe Sind ein Freund der Yogis und helfen dem Gemüt. Wenn man an einem Ort wie diesem lebt, ist man ganz von selbst glücklich, Und ganz besonders glücklich, wenn man keinerlei Freunde hat. Möge durch diese Melodie über die Freuden des Yogis Das Leid der Lebewesen beseitigt werden.«
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