Im 17. Jahrhundert verfaßte der große Arzt Sangye Gyatso viele medizinische Schriften, die sich weniger mit den damals akuten, als vielmehr mit den zukünftigen Krankheiten auseinandersetzten. Darin wird die damalige Zeit als der Höhepunkt des ‘Lichtzeitalters’ bezeichnet. Er ging speziell auch auf die Frage ein, was für Krankheiten am Ende dieses ‘Lichtzeitalters’ auftreten würden. Diese prophetischen Schriften befassen sich also mit Krankheiten der Zukunft und deren Behandlung.
Solche Zukunftsprognosen gab es bereits in den Medizinbüchern von 1100 nach Christus. Darin kann man lesen, daß die Menschen der Zukunft zwar große Fortschritte hinsichtlich der äußeren Entwicklung erzielen würden, daß aber auf Grund der verstärkten intellektuellen Tätigkeit das Gehirn mit Gedankenvorgängen überlastet würde. Dazu komme die Belastung durch eine Vielzahl von Chemikalien. Dies führe zum Entstehen neuer Krankheiten. Als Ursache der intellektuellen Überlastung wird die Unwissenheit genannt.
In Schriften des 17. Jahrhunderts wird dies genauer erklärt. Darin heißt es, daß durch achtzehn verschiedene Viren neue Krankheiten entstehen würden. Eine dieser Beschreibungen paßt exakt auf das, was wir heute ‘Krebs’ nennen. Er wird wiederum in vierzehn Arten unterteilt.
Schon damals wurde überlegt, wie man sich vor diesen Krankheiten schützen könnte, da einen weder Gesetze, religiöse Erlässe, noch Gelübde davor bewahren könnten. Als Hauptursachen der Krankheiten nannte man eine falsche Lebensweise und die von Chemikalien verunreinigte Nahrung, gegen die sich der Körper nicht wehren kann. Das einzige, was wir tun können, ist sowohl die Nahrung im richtigen Maß aufzunehmen als auch die Lebensweise gesund zu gestalten, denn eine gesunde Lebensweise ist die Grundbedingung für eine harmonische Verbindung zwischen Körper und Geist. Auch die geistige Einstellung ist für die Gesundheit entscheidend. Man sollte eine positive Grundhaltung und einen friedfertigen, auf das Wohl der anderen ausgerichteten Geist haben. Seid freundlich, tolerant und bemüht euch positiv zu denken. Jede negative Einstellung reflektiert sich in der Gesundheit. Grundsätzlich liegt die Ursache jeder Krankheit im Geist.
Die tibetische Medizin kann auch einiges über die Entstehung von AIDS erklären: Wir sagen, daß während des Geschlechtsverkehrs viele für den Körper unentbehrliche Mikroben (Mikroorganismen) umkommen. Sie sterben an den männlichen und weiblichen Sekreten. Normalerweise bilden sie sich wieder und vermehren sich erneut. Bei der Frau sind sie zahlreicher als beim Mann - man sagt, es gebe im Körper etwa 84.000 dieser Mikroorganismen. Sie zersetzen beispielsweise die Nahrung im Magen, so daß ihm die Nahrungsbestandteile zugeführt werden können. Funktioniert dies gut, haben wir einen gesunden Teint, der Körper ist kräftig und kann die krankmachenden Einflüsse von außen abwehren. Wenn diese Mikroben zu schwach oder nicht in genügender Anzahl vorhanden sind, ist die gesamte Widerstandskraft des Körpers geschwächt, und wir sind anfälliger gegenüber Viren.
Was ist der Grund für diese Schwächung? Ich habe ja bereits die Umweltverschmutzung erwähnt, die auch die erwünschten Mikroben in unserem Körper schwächt. Das wirkt sich auf die Verdauung und auf das ganze Gesundheitssystem aus. Wir nehmen die Gifte durch den Wind, die Luft und auch die Sonnenstrahlen in unseren Körper auf. Im Wind befinden sich ebenfalls winzige Lebewesen, die in unseren Körper eindringen, sich über die Blutbahn im Körper verbreiten und mit den ‘guten’ Mikroben vermischen. Diese unerwünschten Schädlinge wurden bereits im achten Jahrhundert von dem tibetischen Heiligen Padmasambhava (Guru Rinpoche) als kleine, winzige haarähnliche Wesen, mit einem großen Mund, rötlich wie Kupfer, beschrieben. Die positiven Mikroben in unserem Körper sind aber bereits durch die Umweltverschmutzung, durch schlechte Eß- und Lebensgewohnheiten geschwächt. Mit schlechten Lebensgewohnheiten meine ich vor allem zu häufigen Geschlechtsverkehr. Denn dabei werden mehr Mikroorganismen getötet, als sich wieder regenerieren können. Deshalb kann unser Körper nicht mehr alle von außen kommenden Viren abwehren. Weil dann auch die Nahrung nicht mehr richtig verdaut wird, kommt noch ein krankheitsfördernder Umstand hinzu.
Menschen, die bereits an AIDS leiden, sind daran zu erkennen, daß ihnen ein für Gesunde charakteristisches Strahlen (tib.: Dang) fehlt. Dieser Verlust zeigt, daß die Kraft der Gesundheit von Grund auf verloren geht. Dieser Glanz, der im Herznervenkanal erzeugt wird, dehnt sich normalerweise wie ein Netzwerk über den ganzen Körper hinweg aus. Er verbindet sich mit dem Geist (Sem) und dem inneren Wind (Lung).
Wenn sich die erwünschten Mikroben durch unreine Lebensweise verringern, dann wird Dang ebenfalls davon befallen, weshalb sich dieser Kräfteverlust auch auf den Geist und den Wind (Lung) ausdehnt. In diesem Stadium treten dann die Symptome auf: Die AIDS-Kranken bekommen große schwarze Wunden im Mund, was zeigt, daß bereits Dang, Lung und Geist befallen sind. Dann treten an der Körperoberfläche rote Wunden auf, und die Körpertemperatur steigt. AIDS-Kranke in diesem Stadium bekommen alle Fieber. Das Krankheitsbild kann auch anders sein: Dann entstehen Wunden und Pusteln in der Leistengegend und am Gesäß. Es entstehen auch Wunden in der Lunge, so daß Wasser hineinkommt.
Im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit wird der Körper immer schwächer, die positiven Mikroben, die sich in der Blutbahn befinden, werden immer weniger, so daß es auch immer weniger Blut gibt. Man trocknet langsam aus, und damit erschöpft sich auch die Kraft des Körpers.
In Dharamsala versuchen wir eine Medizin zu entwickeln. Die Rezepte dafür finden sich bereits in den medizinischen Büchern aus dem 11. und 17. Jahrhundert. Außerdem finden sich auch Rezeptanleitungen im Kalachakra-Tantra in der Abteilung für Medizin. Es gibt auch Rezepte von Thekchok Urgyen, einem großen Gelehrten, der zur Zeit des zweiten Karmapa im 12. Jahrhundert in Tsurpu lebte. Auch er gab in medizinischen Schriften Rezeptvorschläge, nach denen heute in Dharamsala Medizin zubereitet wird.
Tibetische Medikamente sind aus vielen Stoffen zusammengesetzt. Sie enthalten vor allem Gold, Silber, Quecksilber, Eisen und einige auch Diamanten. Quecksilber ist schwierig zu handhaben, weil es sehr giftig ist. 16 Leute sind sechs Monate lang damit beschäftigt, es zu entgiften. Das erste Mal seit langer Zeit wurden 1982 wieder 50 Kilogramm entgiftet. Ich habe es erstmalig in Dharamsala wieder eingeführt. Für die Pillen gegen AIDS werden 430 verschiedene Pflanzen, 820 Mineralien und Edelsteine verwendet. Alles zusammen verwendet man 1.400 verschiedene Ingredienzen, um diese Medizin herzustellen. Normalerweise, also für gewöhnliche Medizin, genügen 430 verschiedene Bestandteile. Die dabei verwendeten Pflanzen wachsen hauptsächlich im Himalaya.
Ich selbst habe einige AIDS-Patienten. Sie erhalten unterschiedliche Medizin, je nach ihren aktuellen Symptomen. Ob sie tatsächlich gesund werden, kann ich auf Grund des kurzen Behandlungszeitraums noch nicht sagen. Es geht ihnen bisher zumindest nicht schlechter. Außer den Pillen müssen sie allerdings noch eine Reihe von Verhaltensregeln einhalten: Sie dürfen nichts Saures oder Süßes essen und vor allem keinen scharfen Alkohol trinken. Sie sollen nicht rauchen und keinen Geschlechtsverkehr haben.
Will man eine Krankheit heilen, so ist immer die erste Frage: Wie entsteht sie überhaupt? Nach der Auffassung tibetischer Mediziner braucht ein gesunder Körper „sieben mal zwei Handvoll gutes Blut". Diese Maß verringert sich durch bestimmte negative Einflüsse wie einen Unfall, nach starkem Alkoholkonsum oder auf Grund von Traurigkeit. Solche Einflüsse schwächen das Blut ebenso wie Umweltverschmutzung und schlechte Nahrung. Zusätzlich befinden sich im Wind winzige Lebewesen, kleine Organismen, die in den Körper eindringen, sich mit den ‘guten’, für den Körper nützlichen Mikroben mischen und diese schwächen.
Die nützlichen wie auch die schädlichen Mikroben werden „Bu" genannt, und es gibt 18 verschiedene Arten. Sie sind sehr klein und haben einen großen Mund, an dem sich noch kleinere Tierchen ansiedeln.
An der amerikanischen Harvard-Universität spricht man ebenfalls von solchen kleinen Tierchen, was mit den Erklärungen in unseren Medizinbüchern übereinstimmt, auch wenn sich keineswegs alle westlichen Mediziner darüber einig sind.
In unseren Medizinbüchern jedenfalls steht, daß einige Arten von Bu wuchernde Geschwüre im Fleisch hervorrufen, die aber nicht in jedem Fall Krebs sind. Insgesamt kennen wir 15 verschiedene Arten von Tumoren in verschiedenen Formen:
Eine andere mögliche Krankheitsursache ist Unterkühlung. Die Gewohnheit, Kaltes zu essen und zu trinken, wie Eis, kalte Speisen oder kalte Milch, aber auch zu leichte Kleidung, reduzieren das Feuerelement. So geht innere und äußere Hitze verloren, was durch die Leber ausgeglichen werden muß. Sie erzeugt dabei wieder minderwertiges Blut.
Eine weitere, bereits genannte Ursache sind Unfälle. Schon ein starker Schlag in die Leber genügt, damit sie schlechteres Blut produziert. Auch eine Operation kann die Ursache sein.
Krebs entsteht so wie alles in der Natur: Ebenso wie ein Samenkorn nur dann zur Frucht heranreifen kann, wenn alle Bedingungen stimmen und es genügend Wasser, Licht und Wärme erhält, bricht die Krankheit nur unter gewissen fördernden Bedingungen aus. Deshalb wird in unseren Medizinbüchern auch immer großer Wert auf ausgewogene Lebens- und Eßgewohnheiten gelegt. Andernfalls verringert sich über viele Jahre hinweg zunehmend die Qualität unseres Blutes. Da dieser Prozeß so viele Jahre dauert, bricht die Krankheit lange nicht akut aus. Wenn der Krebs jedoch einmal die wichtigsten inneren Organe wie Lunge, Leber, Galle oder Niere befallen hat, ist er kaum mehr mit Medikamenten zu heilen. Im fortgeschrittenen Stadium ist kaum eine Krankheit mehr heilbar. Das gilt nicht nur für Krebs.
Früher gab es in der tibetischen Region Kham viele Medizinbücher, von Autoren wie Choky Situ, Kongtrul und anderen Persönlichkeiten, in denen ausgezeichnete Rezepte für Krebsmedizinen enthalten waren. Alle diese Bücher wurden von den Chinesen in der tibetischen Stadt Amdo verbrannt, was für die Wissenschaft ein unersetzlicher Verlust ist. Jetzt ist uns nur noch ein einziges Buch über Krebsmedizin geblieben. Es stammt aus Lhasa und ist in meinem Besitz.
Wir unterhalten einen regen Austausch mit westlichen Medizinern, diskutieren und stellen Fragen. Im Westen kann man Krebs rasch diagnostizieren, aber in vierzig Jahren Krebsforschung ist es nicht gelungen, ein wirklich wirksames Medikament zu entwickeln. Ich bin davon überzeugt, daß die tibetische Medizin dies kann. Wir haben sehr vielfältiges Wissen über Medikamente, und hier können wir eine konkrete Hilfe anbieten, die zusammen mit den Kenntnissen im Westen sinnvoll eingesetzt werden kann.
Wie soll man mit den Schmerzen bei Krebs umgehen?
Natürlich gibt es Medikamente, die die Schmerzen zumindest lindern, auch wenn sie keine Heilung mehr ermöglichen. Jeder physische Schmerz ist aber auch ein geistiger, und darin besteht die Schwierigkeit. Denn geistige Schmerzen können durch Medikamente nicht gelindert werden. Jede Krankheitserfahrung ist immer mit geistigem Leid verbunden, dessen Ursache in der Vergangenheit liegt - im vergangenen und in diesem Leben. Die karmische Wirkung negativer und positiver Handlungen fällt auf uns wie ein Regen, dem wir nicht entgehen können.
Wenn wir jetzt unser Leben betrachten und uns ausschließlich mit unseren eigenen Schmerzen beschäftigen, dann ist das auch keine Hilfe für die Zukunft. Nach unserem Religionsverständnis müssen wir nur das erdulden, was wir selbst in einer vergangenen Existenz durch negative Handlungen geschaffen haben. Diese Erkenntnis führt uns von unserer Selbstsucht weg. So wird es wichtiger, daß wir uns mit guten Wünschen dem Wohl der anderen zuwenden.
Im Westen setzt sich die Behandlung von Krebs im wesentlichen aus drei Elementen zusammen: Das sind Chemotherapie, Bestrahlung und Operation. Worin besteht die Behandlung von Krebspatienten in der tibetischen Medizin?
Es gibt verschiedene Methoden:
Gibt es eine Medizin zur Nachbehandlung, um das Wiederauftreten von Krebs zu verhindern?
Wir sind dabei eine solche Medizin zu entwickeln. Die bisherige Medizin dient vor allem dazu, die Krankheit aufzuhalten. Das Wichtigste ist jedoch, sich vor schädigenden Umwelteinflüssen, die krebsfördernd sind, zu schützen.
Was ist eine ausgewogene Ernährung?
Es gibt die verschiedensten Nahrungsmittel. Sie haben einen sauren, süßen, scharfen oder anderen Geschmack. Man sollte sich nicht einseitig ernähren und eine gewisse Vorliebe für eine Geschmacksrichtung haben, sondern gemäßigt und von jedem etwas zu sich nehmen: Das gleiche gilt für den Alkohol. Jede extreme Lebensweise bringt den Körper aus dem Gleichgewicht. Deshalb sollte man seine Lebensweise immer wieder korrigieren und so mäßig wie möglich leben.
Wie verbreitet war Krebs in Tibet?
Der Prozentsatz von Krebskranken in Tibet ist mit dem im Westen nicht zu vergleichen. Bereits in Indien gibt es wesentlich mehr Krebskranke. Als ich 198o Tibet verließ, war ich vorher zwanzig Jahre im Gefängnis und habe in dieser Zeit für die Chinesen als Arzt gearbeitet. Dabei sind mir in meiner ganzen Praxis vielleicht sieben oder acht Krebskranke untergekommen. In Tibet gab es ja auch keine Umweltverschmutzung. Jetzt gibt es einige Autos in Lhasa, also kommt sie auch hier. Früher gab es in Lhasa auch keine Kranken. Die Alten hatten natürlich ein bißchen Arthritis und Rheumatismus in den Knien, aber sonst hatte niemand Beschwerden. Vor allem am Anfang des Jahres, im vierten Monat, gab es überhaupt keine Kranken, weil die Luft zu dieser Zeit besonders klar war.
Als die Chinesen 1959 Tibet endgültig mit Waffengewalt unterwarfen, floh der Dalai Lama nach Indien, Dr. Tenzin Chödrak aber nahmen sie gefangen und warfen ihn als ‘Feind des Volkes’ in ein Internierungslager. Er bezeichnet es heute noch als ein Wunder, daß er nach 17 Jahren Folter, Hunger und Kälte wieder lebendig herausgekommen ist (von anfangs 76 Häftlingen überlebten nur vier). Einer der Gründe für sein Überleben dürfte die Erkenntnis der Gefängniswärter gewesen sein, daß er sogar sie heilen konnte. Nachdem er viele Chinesen von oft schweren und chronischen Leiden geheilt hatte, durfte er 1980 Tibet verlassen. Heute ist er wieder der Leibarzt des Dalai Lama und leitet das tibetische medizinisch-astrologische Institut in Dharamsala.
Der Verein Chakpori Gesellschaft zur Förderung der Tibetischen Medizin wurde 1986 auf Anregung des tibetischen Arztes Dr. Trogawa Rinpoche gegründet. Er organisiert Seminare und Vorträge renommierter tibetischer Ärzte.
Informationen: Chakpori Gesellschaft zur Förderung der Tibetischen Medizin c/o Florian Lauda Pötzleinsdorfer Straße 59 A-1180 Wien oder Miky Saly Mittermaierstr. 29 8000 München 40 Tel.: (089) 3003484
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