Der Buddhismus Tibets umfaßt die Gesamtheit dieser buddhistischen Lehren, die in Indien ihren Ursprung hatten. Dank der großartigen Zusammenarbeit von tibetischen Übersetzern und den buddhistischen Meistern Indiens konnte die gesamte Sammlung buddhistischer Lehren in das Tibetische übertragen werden. Auf dieser Grundlage blühte der Buddhismus in Tibet bis ins 20. Jahrhundert. Die Entwicklung der verschiedenen buddhistischen Traditionen Tibets sollte dabei in ihrem geschichtlichen Zusammenhang betrachtet werden:
Im 8. Jahrhundert lud Trisong Detsen, der damalige König Tibets, zwei buddhistische Meister –Guru Rinpoche und Shantarakshita – nach Tibet ein. In seinem Auftrag sollten sie in Tibet Buddhismus lehren. Gleichzeitig veranlaßte dieser König die Übersetzung wichtiger buddhistischer Werke in das Tibetische. Diese erste Lehr- und Übersetzungsaktivität entwickelte sich in die Nyingma-Tradition, die »Alte Tradition«; die Lehren der Nyingma-Schule beruhen auf jenen Werken, die durch diese erste Übersetzungsperiode in Tibet bekannt wurden. Im 11. Jahrhundert begann eine zweite große Übersetzungsphase, die einerseits das Überarbeiten der anfänglichen Terminologie und andererseits das Erstellen neuer Übersetzungen umfaßte. Jene Traditionen, die ihre Übertragungen auf diese Übersetzungsperiode stützen, werden als die Sarma-Traditionen, die »Neuen Traditionen« bezeichnet. Die Kagyü-, Sakya- und Gelug-Schulen sind die bekanntesten unter ihnen.
Die Kagyü-Tradition wurde von Marpa, dem Übersetzer (1012-1097), nach Tibet gebracht. Er war spezialisiert auf vier bestimmte Übertragungen, die auf den indischen Siddha Tilopa und andere indische Meister der Mahamudra-Linie zurückgehen.
Die Sakya-Tradition wurde von Khön Könchog Gyalpo (1034-1102) gegründet. Er konzentrierte sich auf die Übertragungen, die vom indischen Mahasiddha Virupa gelehrt wurden.
Die Gelug- (oder Ganden) Tradition wurde von Tsongkhapa (1357-1419) eingeführt. Er betonte die Lehren der sogenannten Kadampa-Schule, die der indische Meister Atisha (982-1054) nach Tibet gebracht hatte.
Unterschiedliche historische Quellen weisen zwar einige Abweichungen auf bezüglich jener Lehrer, die mit diesen vier Übertragungen in Zusammenhang stehen, dennoch scheint folgende Beschreibung die am meisten verbreitete zu sein:
Die erste der vier besonderen Übertragungen erhielt Tilopa von Nagarjuna; sie beinhaltet zwei Tantras, das »Sangwa Düpa«-Tantra (sanskrit: Guhyasamaja) und das »Denshi«-Tantra, und sie umfaßt die Meditationspraktiken des »Illusionskörpers« (tibetisch: sgyu-lus) und der »Bewußtseinsübertragung« (tib.: pho-ba).
Die zweite besondere Übertragung kam über Nakpopa; sie beinhaltet das Tantra »Gyuma Tschenmo« (skt.: Mahamaya) und die Meditation namens »Bewußtes Träumen« (tib.: rmi-lam).
Die dritte besondere Übertragung erhielt Tilopa von Lawapa; sie besteht aus dem »Demtschog«-Tantra und der Meditationspraxis des »Klaren Lichts« (tib.: od gsal).
Die vierte besondere Übertragung kam über die Dakini Kalpa Sangmo. Sie beinhaltet das Tantra »Gyepa Dorje« (tib.: Hevajra) und die Meditationspraxis namens »Tummo« (tib.: gtu-mo).
Tilopa gab diese Lehren an seinen Schüler Naropa weiter, der sie in die sogenannten »Sechs Lehren Naropas« – Meditationen die bis heute das zentrale Thema in der Kagyü-Tradition bilden – systematisierte. Naropa übertrug die Lehren an Marpa, den großen Übersetzer, der auf seiner Suche nach Belehrungen von Tibet nach Indien gereist war. Als Marpa schließlich nach Tibet zurückkehrte, brachte er diese besondere Tradition mit sich und lehrte sie in Tibet.
Milarepa, Marpas wichtigster Schüler, wurde einer von Tibets größten Yogis. Durch seine Ausdauer in der Meditationspraxis von Mahamudra und der Sechs Lehren Naropas erlangte er tiefe Verwirklichung der absoluten Natur der Wirklichkeit.
Gampopa, der Arzt aus Dhagpo, wurde Milarepas Linienhalter. Er hatte zunächst in der Kadampa-Tradition, ein stufenweiser Weg, der die sogenannten »Lam Rim«-Belehrungen beinhaltet, studiert. Später traf er dann mit Milarepa zusammen und erlangte unter dessen Anleitung die Verwirklichung der letztendlichen Wirklichkeit. Gampopa errichtete monastische Institutionen, lehrte in großem Ausmaß und hatte viele Schüler. Vier seiner Schüler gründeten die vier großen Kagyü-Schulen: Baram Dharma Wangchuk gründete die Baram Kagyü-, Pagdru Dorje Gyalpo gründete die Pagdru Kagyü-, Shang Tsalpa Tsondru gründete die Tsalpa Kagyü-, und Karmapa Düsum Khyenpa gründete die Kamtsang Kagyü-Schule, die auch als Karma Kagyü-Schule bekannt ist.
Es war der erste Karmapa, Düsum Khyenpa, der die vollständige Mahamudra-Übertragung von Gampopa erhielt.
Die acht kleinen Kagyü-Traditionen gehen auf Pagdru Dorje Gyalpos acht Hauptschüler zurück. Die acht Schulen sind: Taglung Kagyü, Trophu Kagyü, Drugpa Kagyü, Martsang Kagyü, Yerpa Kagyü, Yazang Kagyü, Shugseb Kagyü und Drikung Kagyü.
Die verschiedenen Kagyü-Traditionen werden nicht wegen ihrer Lehren als »groß« bzw. »klein« bezeichnet, da sie in dieser Hinsicht völlig gleichwertig sind. Die »vier großen« sind vielmehr deswegen als solche bekannt, da sie in Gampopa selbst ihren Ursprung haben, während die »acht kleinen« Traditionen auf eine spätere Generation von Meistern zurückgehen. Derzeit bestehen von den vier großen Kagyü-Traditionen nur noch die Karma Kagyü und von den acht kleinen Kagyü-Traditionen die Taglung-, Drugpa- und Drikung Kagyüs als eigenständige Schulen.
Innerhalb der buddhistischen Traditionen Tibets kann man wiederum verschiedene Übertragungen unterscheiden, wobei alle diese Traditionen gleichermaßen Übertragungen des Pratimoksha-Gelübdes und des Bodhisattva-Gelübdes haben. Die Karma Kagyü-Tradition beinhaltet darüberhinaus die Übertragung der Tantrayana-Meditationspraktiken der »Sechs Lehren Naropas« sowie die des »Mahamudra«.
Der Name »Goldene Kagyü Übertragungskette« bezieht sich dabei auf jene Linienhalter, in deren Übertragung Mahamudra das zentrale Thema ist. Es sind dies die indischen Meister der Linie, die aufeinanderfolgenden Inkarnationen des Karmapa und ihre jeweils wichtigsten Schüler, die die Übertragung an die nächste Karmapa-Inkarnation weitergeben. Die Linienhalter werden von Karmapa selbst ausgewählt, wodurch sichergestellt ist, daß die Lehren intakt und rein erhalten bleiben.
Der Karmapa wählt also immer selbst jene Lehrer, die die Übertragungslinie an seine zukünftige Inkarnation weitergeben. Karmapa ist ein großer Bodhisattva, der die Fähigkeit besitzt, die Verwirklichung und die Qualitäten anderer wahrzunehmen. Es ist durch eben diese Fähigkeit, kraft derer der Karmapa sieht, daß der entsprechende Lehrer die letztendliche Natur der Wirklichkeit erkannt hat und nicht in der geringsten Weise an weltlichen Dingen hängt, und daß er sich für den einen oder anderen Lehrer entscheidet. Es gibt von daher keine Norm, die Karmapas Lehrer im vornherein festlegen würde. Manchmal waren diese Linienhalter zwischen den Karmapas bedeutende Reinkarnationen und manchmal hervorragende Praktizierende, die keinerlei hohen Status in der religiösen Hierarchie innehatten. Gyalwa Yungtönpa ist ein Beispiel hierfür.
Ein anderer Aspekt der Erhaltung der Karma Kagyü-Tradition ist der vorläufige Verwaltungsrat (bzw. die vorläufigen Verwalter), die zwischen Karmapas Inkarnationen seine Klöster verwalteten. Die einstweiligen Verwalter sind keine Linienhalter.
Der 14. Karmapa, Thegchog Dorje, bestellte zum Beispiel das Oberhaupt der Drukpa Kagyü, den 9. Drugchen Mipham, Chökyi Gyamtso, (auch als Mingyur Wanggi Gyalpo bekannt) als Direktor dieser Zwischenverwaltung. Der 16. Karmapa setzte, der indischen Gesetzgebung entsprechend, eine juristische Person, den »Karmapa Charitable Trust« für diese Funktion ein und ernannte persönlich die Kuratoriumsmitglieder. Bis zur Volljährigkeit des 17. Karmapa tragen sie daher derzeit die Verantwortung für die Angelegenheiten des Sitzes S. H. des 16. Karmapa und der daran angeschlossenen Klöstern und Zentren.
Aufgelistet sind hier die Meister der »Goldenen Kagyü-Übertragungskette«:
Tilopa 988 – 1069 Naropa 1016 – 1100 Marpa 1012 – 1097 Milarepa 1052 – 1135 Gampopa 1079 – 1153 1. Karmapa, Düsum Khyenpa 1110 – 1193 Drogön Rechen 1148 – 1218 Pomdragpa 1170 – 1249 2. Karmapa, Karma Pakshi 1204 – 1283 Drubtob Urgyenpa 1230 – 1312 3. Karmapa, Rangjung Dorje 1284 – 1339 Gyalwa Jungtönpa 1296 – 1376 4. Karmapa, Rölpe Dorje 1340 – 1383 2. Shamarpa, Kachö Wangpo 1350 – 1405 5. Karmapa, Deshin Shegpa 1384 – 1415 Rinchen Zangpo (Ratnabhadra) 15. Jahrh. 6. Karmapa, Thongwa Dönden 1416 – 1453 Bengar Jampal Zangpo 15/16. Jahrh. 1. Gyaltsab, Paljor Döndrup 1427 – 1489 7. Karmapa, Chödrag Gyamtso 1454 – 1506 Sangye Nyenpa, Tashi Paljor 1457 – 1525 8. Karmapa, Mikyö Dorje 1507 – 1554 5. Shamarpa, Könchog Yenlag 1526 – 1583 9. Karmapa, Wangchuk Dorje 1556 – 1603 6. Shamarpa, Chökyi Wangchuk 1584 – 1629 10. Karmapa, Chöying Dorje 1604 – 1674 7. Shamarpa, Yeshe Nyingpo 1631 – 1694 11. Karmapa, Yeshe Dorje 1676 – 1702 8. Shamarpa, Chökyi Döndrub 1695 – 1735 12. Karmapa, Changchub Dorje 1703 – 1732 8. Situpa, Chökyi Jungne 1700 – 1774 13. Karmapa, Düdül Dorje 1733 – 1797 10. Shamarpa, Chödrub Gyamtso 1742 – 1792 9. Situpa, Pema Nyinche Wangpo 1774 – 1853 14. Karmapa, Thegchog Dorje 1798 – 1868 1. Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye 1813 – 1901 15. Karmapa, Khakyab Dorje 1871 – 1922 11. Situpa, Pema Wangchog 1886 – 1952 2. Jamgön Kongtrul, Khyentse Öser 1904 – 1953 16. Karmapa, Rangjung Rigpe Dorje 1923 – 1981
Eines Tages erschien eine Dakini vor ihm und fragte ihn ob er wahre Erleuchtung erlangen wolle. Tilopa erkannte sie als eine Dakini (eine weibliche Schützerin der esoterischen Lehren) und bat sie um Unterweisungen. Sie führte ihn in das Chakrasamvara-Tantra ein und er war fähig, die Lehren voll in sich aufzunehmen. Tilopa praktizierte diese Lehren 12 Jahre lang in Somapuri. Er nahm eine Yogini (eine weibliche Praktizierende) zur Gefährtin und wurde aus diesem Grund aus der Klostergemeinschaft ausgeschlossen.
Tilopa reiste weit und breit durch Indien, traf viele verwirklichte Lehrer und erhielt Unterweisungen von ihnen. Für seinen Lebensunterhalt stampfte er Sesamsamen (skt.: til), um Öl daraus zu gewinnen und es heißt, sein Name rühre daher. Sein Hauptlehrer war der Buddha Dorje Chang, von welchem er die direkte Übertragung der Lehren, vor allem der Mahamudra-Lehren, erhielt.
Tilopa lebte an einsamen Plätzen und wurde als großer Meister bekannt. Von seinen zahlreichen außergewöhnlichen Schülern wurde Naropa der Linienhalter.
Als er nach Abschluß seiner Ausbildung nach Hause zurückkehrte, stellte er fest, daß seine Eltern seine Hochzeit mit einer Brahmantochter namens Vimaladipi festgesetzt hatten. Ihre Ehe währte nur acht Jahre und wurde schließlich auf Naropas Drängen hin aufgelöst. Naropa kehrte dann nach Kashmir zurück, wurde dort ordiniert und nahm seine Studien wieder auf.
Mit 28 zog er nach Pullahari, um dort zu leben und erhielt in Nalanda, einer nahe gelegenen buddhistischen Universität, weitere Unterweisungen. Später wurde er selbst Abt von Nalanda. Eines Tages erschien ihm eine häßliche Frau, die eigentlich eine Manifestation der Dakini Vajra Varahi war. Sie verdeutlichte Naropa die Wichtigkeit von Meditationspraxis und gab ihm den Rat, den Meister Tilopa aufzusuchen, damit er von diesem Unterweisungen erhalten könne.
Naropa verließ Nalanda, um diesen Lehrer ausfindig zu machen und begegnete ihm dann tatsächlich im Osten Indiens. In seiner Art Naropa anzuleiten, setzte ihn Tilopa erheblichen Härten aus. Naropa hielt jedoch durch und meisterte die erhaltenen Lehren.
Marpa der Übersetzer, sein Schüler aus Tibet, brachte die Lehren nach Tibet und wurde dort zum Begründer der Kagyüpa-Tradition.
Marpa begegnete Naropa und erhielt von diesem viele Jahre hindurch Unterweisungen. Darüberhinaus lernte er auch bei Jnanagarbha, Kukuripa, Maitripa und anderen bekannten indischen Meistern. Nach seiner Rückkehr nach Tibet verbrachte Marpa viele Jahre damit, buddhistische Texte aus dem Sanskrit in das Tibetische zu übersetzen. Dabei lebte er gemeinsam mit seiner Frau Dagmema und seinen Söhnen in Lhodrag, Südtibet. Marpa wurde ein berühmter Übersetzer und leitete selbst eine Gruppe von Schülern, denen er die Quintessenz jener Lehren gab, die er selbst praktiziert und gemeistert hatte.
Marpa reiste noch zweimal nach Indien, um weitere Lehren nach Tibet zu bringen. Es war nach der Rückkehr von seiner zweiten Reise, daß Milarepa, der als der berühmte Yogi Tibets in die Geschichte einging, sein Schüler wurde. Marpa verstarb im Alter von 86 Jahren.
Milarepa erlernte schnell, wie man diese dunklen vernichtenden Kräfte einsetzt, und verursachte dadurch den Tod von vielen Menschen. Bald bereute er jedoch seine Verbrechen und machte sich auf die Suche nach einem Meister, der ihm behilflich sein könne, dem negativen Karma, das er angesammelt hatte, entgegenzuwirken. Zunächst wurde er Lama Rangtöns Schüler. Dieser, ein Lehrer der Nyingma-Tradition, bemerkte, daß Milarepa eine Verbindung zu Marpa hatte und schickte ihn daher zu diesem Übersetzer nach Lhodrag. Marpa ließ Milarepa, als Vorbereitung für spätere Unterweisungen und Lehren, Jahre der Härten durchlaufen. Während dieser Zeit baute Milarepa den Baubeschreibungen Marpas zufolge eigenhändig einen neunstöckigen Turm. Nach diesen Strapazen übertrug ihm Marpa all jene Lehren, die er von Naropa und anderen bekommen hatte.
Milarepa praktizierte viele Jahre in völliger Abgeschiedenheit, meisterte die Lehren und erlangte in diesem einen Leben Erleuchtung. Dann begann er damit, andere zu unterrichten und wurde vor allem für seine poetischen Lehrgesänge bekannt. Er hatte viele berühmte Schüler, von denen Gampopa zum nächsten Linienhalter wurde. Milarepa verstarb im Alter von 84 Jahren.
Im Alter von 26 Jahren nahm Gampopa der Kadampa-Tradition entsprechend die Novizengelübde. Er studierte mit vielen Meistern und entwickelte ein gutes Verständnis der Lehren Buddhas. Als er im Alter von 32 Jahren von Milarepa hörte, empfand er sofort intensives Vertrauen und erkannte, daß Milarepa dazu bestimmt war, sein Lehrer zu sein.
Gampopa machte sich auf die Suche nach Milarepa und es gelang ihm nach vielen Schwierigkeiten, ihn zu finden. Nachdem er von Milarepa die gesamten Kagyü-Lehren erhalten hatte, reiste er nach Dhagpo, eine Gegend, die im Südosten Zentraltibets liegt. Er zog sich dort zunächst für viele Jahre in ein Meditationsretreat zurück und gründete dann das Kloster Daglha Gampo, wo sich bald viele Schüler um ihn versammelten. Gampopa war ein ausgezeichneter Schriftsteller, der besonders für seine tiefe Einsicht in die Lehre Buddhas bekannt war.
Von den Hauptschülern Milarepas war Gampopa derjenige, der von Milarepa die vollständige Kagyü-Übertragung erhielt.
Die vier wichtigsten Schüler Gampopas gründeten die vier »großen« Kagyü-Schulen, während sich die acht »kleinen« Kagyü-Schulen später entwickelten. Gampopa starb mit 75 Jahren, nachdem er die Lehren der Kagyüs weit und breit gelehrt hatte.
Unter seinen engsten Schülern war es Düsum Khyenpa, der sein Linienhalter wurde.
Mit 20 Jahren reiste Düsum Khyenpa nach Zentraltibet, wo er zwölf Jahre hindurch mit großartigen Gelehrten wie Kyapa Chökyi Senge, Patsab Lotsawa Nyima Trag und anderen intensiv studierte.
Im Alter von 30 Jahren begegnete er Gampopa und erhielt von diesem drei Jahre lang die Lehren der Kagyüs. Düsum Khyenpa wurde auch von Rechungpa und anderen Schülern Milarepas unterrichtet. Er lernte und praktizierte zwölf Jahre hindurch und entwickelte Wunderkräfte, die es ihm ermöglichten, heilige Vajrayana-Stellen in Indien zu besuchen. In Udhiyana – ebenfalls eine wichtige Vajrayana-Stelle – traf er Dakinis, die ihn ausführlichst belehrten.
Im Alter von 44 Jahren kehrte er nach Osttibet zurück und verbrachte dort den Rest seines Lebens. In diesem Lebensabschnitt errichtete er drei Klöster, verbreitete die Kagyü-Lehren und zog viele Schüler an. Düsum Khyenpa hatte viele fähige Schüler, die die Kagyü-Tradition weiterführten, wobei Drogön Rechen zu seinem Linienhalter wurde. Düsum Khyenpa verstarb mit 84 Jahren und während seines Todes ereigneten sich viele glückverheißende Zeichen.
Mit neun Jahren begann er, beim Kagyü-Lama Sangri Repa den Dharma zu praktizieren. Unglücklicherweise erkrankte der Lama jedoch, bevor er ihm alle Lehren übertragen hatte. Da er wußte, daß sein Tod bevorstand, empfahl er Drogön Rechen, die Schüler Milarepas aufzusuchen, da ein Dharma-Studium unter ihrer Leitung bewirken werde, daß er Verwirklichung erlange.
Drogön Rechen erhielt die vollständigen Lehren Milarepas sowie die auf den indischen Meister Vimalamitra zurückgehenden Nyingma-Lehren. Er setzte die Lehren in Praxis um und erlangte tiefe Stufen der Verwirklichung.
Als Drogön Rechen von Düsum Khyenpa, dem ersten Karmapa, hörte, nahm er sich vor, ihn aufzusuchen. Obwohl er Karmapa und sich selbst als ebenbürtig ansah, entschloß er sich dazu, ihn zu treffen, da der Karmapa ein älterer Meister war und damit eine längere Erfahrung mit dem Buddhismus und den damit verbundenen Praktiken hatte.
Bei ihrem Zusammentreffen zeigte der Karmapa übernatürliche Kräfte, womit er die stolze Einstellung Drogön Rechens durchbrach. Drogön Rechen wurde zum wichtigsten Schüler Düsum Khyenpas, erhielt von diesem den gesamten Zyklus der Kagyü-Lehren und wurde der nächste Linienhalter.
Als er 14 Jahre alt war, hörte er von Drogön Rechen. Der starke Wunsch, diesem zu begegnen, kam in ihm auf, mit der Ahnung, daß Drogön Rechen sein vorherbestimmter Lehrer sei.
Bei ihrer Begegnung sah Drogön Rechen deutlich, daß dieser Junge sehr begabt war und der nächste Linienhalter werden würde. Aus diesem Grund übertrug er alle Lehren an Pomdragpa, der ihnen gemäß praktizierte und ein großer Kagyü-Meister wurde. Sein Hauptschüler war der zweite Karmapa, Karma Pakshi.
Karma Pakshi erhielt den gesamten Zyklus der Kagyü-Lehren von ihm. Er wurde ein berühmer Siddha mit außergewöhnlichen Kräften und Verwirklichungen. Er hatte Schüler sowohl in Tibet als auch in der Mongolei und in China. Von seinen besten Schülern wurde Drubtop Urgyenpa der nächste Linienhalter. Karma Pakshi verstarb im Alter von 80 Jahren.
Da er mit seiner Errungenschaft nicht zufrieden war, machte er den Meister Götsangpa ausfindig, von welchem er alle Kagyü-Lehren erhielt. Drubtop Urgyenpa praktizierte in der Drukpa Kagyü-Tradition. Er reiste nach Nepal, Indien, China und Pakistan und begegnete während seiner Reisen vielen Lehrern unter deren Anleitung er weiter studierte und meditierte.
Im Alter von 53 Jahren traf er Karma Pakshi, der ihm die letztendlichen Kagyü-Lehren übertrug und prophezeite, daß Urgyenpa der Lehrer des 3. Karmapa sein werde.
Rangjung Dorje erhielt Unterweisungen aus allen damals bestehenden buddhistischen Traditionen. Er studierte mit Meistern wie Trophu Künden Sherab, Nyenre Gendün Bum und vielen anderen. Er wurde als einer der größten Meister seiner Zeit bekannt und hatte unzählige Schüler.
Rangjung Dorje errichtete viele Meditationszentren. Er baute auch Brücken, um den Menschen behilflich zu sein, Flüsse und Schluchten zu überqueren. Als großartiger Gelehrter schrieb er zahlreiche Texte und Abhandlungen.
Seine wichtigsten Schüler waren Gyalwa Yungtön und der erste Shamarpa, Dragpa Senge. Gyalwa Yungtön, ein Nyingmapa, wurde der nächste Linienhalter. Rangjung Dorje verstarb im Alter von 56 Jahren.
Mit fünfzehn Jahren trat er in das berühmte Nyingma-Kloster Ugpa Lung ein und wurde dort von Lama Zurchung und Lama Bale im Tantrayana unterrichtet.
Dann studierte er an der monastischen Lehranstalt Shalu und wurde ein berühmter Gelehrter. Er war als ein Lehrer bekannt, der sowohl die Lehren des Sutra als auch jene des Tantra gemeistert hatte.
Es heißt, daß er nach seiner Begegnung mit dem 3. Karmapa, der ihm die letztendliche Bedeutung der Lehren übertragen hatte, höchste Verwirklichung erlangte. So wurde Gyalwa Yungtönpa zum nächsten Linienhalter. Er starb im Alter von 82 Jahren.
Rinchen Pal, der Sekretär des letzten Karmapa, hatte von Karmapa die Informationen über dessen nächste Inkarnation erhalten und fand ihnen folgend den 4. Karmapa. Im Alter von sechs Jahren erhielt er von Tokden Gön Gyalwa, unter dessen Anleitung er studierte und praktizierte, die Zufluchts- und Laiengelübde.
Im Alter von zwanzig Jahren traf er während einer Reise nach Zentraltibet mit Gyalwa Yungtön Dorje Pal zusammen und der junge Karmapa erzählte ihm viele Ereignisse aus dem Leben von Rangjung Dorje, dem letzten Karmapa. Dies überzeugte Gyalwa Yungtön davon, daß der Junge die authentische Reinkarnation seines Lehrers war. Rölpe Dorje sagte ihm, daß in diesem Leben Gyalwa Yungtön sein Lehrer sein werde und bat ihn, ihm all die Kagyü-Lehren zu übertragen. Nach seiner Ausbildung reiste der Karmapa durch ganz Tibet und China und verbreitete die Kagyü-Lehre. Sein wichtigster Schüler war der 2. Shamarpa, der der nächste Linienhalter wurde. Rölpe Dorje verstarb im Alter von 43 Jahren.
Die Tradition der Reinkarnationsabfolge hat ihren Ursprung im 12. Jahrhundert in Tibet, und zwar mit dem Beispiel des 1. Karmapa, Düsum Khyenpa. Die Linie des Shamarpa geht auf das gleiche Jahrhundert zurück. Sie ist damit in der Geschichte dieser Tradition die zweite Reinkarnationslinie und begann, als der 3. Karmapa seinem wichtigsten Schüler, Kedrub Dragpa Senge, eine rubinrote Krone und gleichzeitig damit den Titel Shamarpa (Halter der Roten Krone) überreichte. Diese »Rote Krone der Shamarpas« ist eine genaue Nachbildung der Schwarzen Krone, die von den Karmapas getragen wird und symbolisiert die nahe Verbindung, die zwischen diesen beiden Reinkarnationslinien besteht. Der 2. Karmapa, Karma Pakshi, prophezeite, daß »zukünftige Karmapas sich in zwei Formen manifestieren werden«. Diese Aussage wurde später vom 4. Karmapa, Rölpe Dorje, näher erklärt, als er die Shamarpa-Inkarnationen als eben diese zweite Manifestation bezeichnete. Die Shamarpas sind auch als Manifestation von Amitabha, dem Buddha des Grenzenlosen Lichts, bekannt, der zum Wohl der Wesen aktiv ist.
Geschichtliche Aufzeichnungen sprechen von den Karmapas als »Karma Shanakpa« (Karmapa, Halter der Schwarzen Krone) und von Shamarpa als »Karma Shamarpa« (Karmapa, Halter der Roten Krone). Die historischen Werke von Golo Shonnu Pal (1392-1481), von Pawo Tsuglag Trengwa (1504-1516), vom 5. Dalai Lama, Ngawang Lozang Gyamtso (1617-1682), und vom 8. Situpa, Chökyi Jungne (1700-1774), bezeichnen sie in dieser Form.
Es ist wichtig zu verstehen, daß diese Kronen einfach Symbole ihrer Aktivität zum Wohl der Wesen sind und keine getrennten Linien anzeigen. Beide, sowohl der »Schwarz-Hut-Lama« als auch der »Rot-Hut-Lama« gehören zur Karma Kagyü-Linie.
Als Rinchen Pal, der als Sekretär von drei Karmapas agierte, von diesem ungewöhnlichen Kind hörte, suchte er es auf und brachte es nach Tsawa Phu in Kongpo, wo eine große Gruppe von Leuten, die Schüler des letzten Karmapa gewesen waren, lebte.
Dort begegnete der Junge Shamar Kachö Wangpo, der ihn sogleich als Reinkarnation von Rölpe Dorje erkannte. Shamarpa überreichte ihm die Schwarze Krone und alle anderen Dinge des letzten Karmapa, die dieser ihm anvertraut hatte.
Der junge Karmapa erhielt von Kachö Wangpo den gesamten Zyklus der Kagyü-Lehren. Sein ganzes Leben hindurch reiste er durch Tibet, die Mongolei und China, und gab Unterweisungen und Ermächtigungen. Er wurde vom Kaiser Tai Ming Chen nach China eingeladen und wurde dessen Lehrer. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in China kehrte der Karmapa schließlich nach Tibet zurück, wo er einerseits weiter Belehrungen gab und andererseits Stupas und Tempel errichtete.
Deshin Shegpa fand die junge Shamar-Reinkarnation Chöpal Yeshe, beaufsichtigte dessen Ordination und übertrug ihm die Kagyü-Lehren. Von seinen wichtigsten Schülern wurde Ratnabhadra der nächste Linienhalter. Deshin Shegpa verstarb im Alter von 31 Jahren.
Der 5. Karmapa, Deshin Shegpa, gab ihm die Kernunterweisungen der letztendlichen Bedeutung der Kagyü-Lehren, kraft derer Ratnabhadra vollständige Verwirklichung der letztendlichen Natur der Wirklichkeit erlangte.
Er wurde der nächste Linienhalter und der Lehrer des 6. Karmapa, Tongwa Dönden.
Copyright © 1996 Karma Kagyu Buddhist Network