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Künzig Shamar Rinpoche

Der Mahamudra-Weg

Künzig Shamar Rinpoche

Teil 4: Nur eine weite, offene, bewußte Klarheit

Unter den vier buddhistischen Schulen Tibets ist die Kagyü-Linie diejenige, die am nachdrücklichsten das Schwergewicht auf Meditation legt. Es ist die Linie, in der die Lehren Milarepas übertragen werden. Sein Geschick in der Praxis ist hier ungebrochen erhalten geblieben.

Kagyüpas praktizieren Mahamudra und Nyingmapas praktizieren Maha Ati. Die Namen sind zwar verschieden, beide Systeme sind jedoch gleichwertig. Was bedeutet das Wort Mahamudra? Maha bedeutet wörtlich groß und deutet darauf hin, daß diese Meditationsmethode die höchste und nützlichste ist. Mudra hat – wie viele Sanskritwörter – verschiedene Bedeutungen. Manchmal bedeutet es Siegel, manchmal Handlung, manchmal Geste. In diesem Zusammenhang bedeutet es Siegel. Gemeint ist das Bestätigungssiegel des Buddha, seine Garantie, daß es nichts gibt, was darüber hinausgeht – daß es jenseits von Mahamudra nichts Tiefgründigeres oder Besseres gibt.

In der Kagyü-Tradition spricht man von drei Arten von Mahamudra. Es sind Stufen, die den unterschiedlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten der verschiedenen Menschen entsprechen.

Sutra-Mahamudra

Bei der ersten Art geht es um einen philosophischen Ansatz, der eng mit dem Madhyamaka – der Philosophie des Großen Mittleren Weges – zusammenhängt. Es ist ein Weg, der es ermöglicht, sanft und stufenweise zur Mahamudra-Erfahrung zu gelangen.

Die Übung beginnt hier mit der Meditation der Geistesruhe, indem man zuerst ein geistiges Bild benutzt und dann den Geist ohne ein solches Bild in sich ruhen läßt. Im Anschluß übt man sich in analytischer Meditation, indem man immer wieder die intelligente Bewußtheit des Geistes nutzt, um die wahre Natur der Situation zu untersuchen. Wenn der Lehrer dann weiß, daß der Schüler in der Lage sein wird, das Gezeigte zu erkennen, weist er den Schüler in die wahre Natur des Geistes ein. Dies kann nach einigen Monaten, aber auch nach einigen Jahren an Praxis erfolgen. Diese Mahamudra-Methode beruht auf den Mahayana-Sutras und bietet einen langsamen aber sicheren Weg zur Erleuchtung.

Die Kagyü-Schule bietet als einzige Schule noch eine andere Form des Sutra-Mahamudra, die von Gampopa eingeführt wurde. Er zeigte auf, wie man den Sutraweg und das Mahamudra zu einem sehr direkten Pfad vereinen kann, der frei ist von den Einschränkungen, die Praktizierende des tantrischen Weges auf sich nehmen müssen; diese haben in der Regel eine Vielzahl von Samayas – tantrische Gelübde – einzuhalten.

Die ursprünglichen Belehrungen des Buddha zu diesem Pfad sind im Samadhiraja-Sutra aufgezeichnet. Wir können dort nachlesen, wie der Buddha das Erscheinen Gampopas prophezeite und sagte, daß Gampopa diese bestimmte Methode einführen und verbreiten und damit Tausende zur Erleuchtung führen werde. Es wird gesagt, daß, als Gampopa später diesen Weg zu lehren begann, selbst die Rehe aus dem Wald kamen, sich zu ihm legten und zuhörten – in der gleichen Weise, wie sie es taten, als Buddha Shakyamuni zum ersten Mal im Rehpark lehrte.

Tantra-Mahamudra

Die zweite Art von Mahamudra hängt speziell mit den Tantras zusammen. Hier erhält man zuerst Ermächtigung, meditiert dann auf den Körper und das Mandala eines Yidams und rezitiert sein Mantra. Durch diese geistig erschaffenen Symbole wird der Geist gereinigt und transformiert. Dies führt einen weiter zu Praktiken wie den »Sechs Lehren Naropas«, die diese Transformation vervollständigen und in der Erkenntnis von Mahamudra resultieren. Diese Methoden entsprechen den Trekchö- und Thogal-Meditationen im Maha-Ati-System.

Essenz-Mahamudra

Essenz-Mahamudra, die dritte Sorte, hat mit den beiden vorherigen Arten nichts gemeinsam. Im Madhyamaka-Ansatz bringt die intensive Untersuchung ein stabiles Vertrauen im Geiste des Praktizierenden hervor, welches ihn zum Mahamudra-Verständnis führt. Im Tantra-Mahamudra stützt sich der Praktizierende auf Yidams und Yogaübungen. Hier jedoch wird nichts derartiges benötigt: Der Lehrer ist erleuchtet und der Schüler ist bereit dafür erleuchtet zu werden. Es ist das direkte Erkennen des Geistes durch den Geist, direktes Meditieren auf das Resultat anstatt viele Schritte durchzugehen. Der Schüler kann seinen Geist und dessen Manifestationen erkennen, ohne die zuvor beschriebenen Methoden verwenden zu müssen. Einfach indem jemand ihn darin einführt, erkennt seine erwachte Intelligenz, was ihm gezeigt wurde. Bei einigen Menschen erfolgt dieses Erkennen augenblicklich.

Essenz-Mahamudra wurde von Saraha im Schatz seiner Lieder gelehrt und ebenso von Tilopa und Milarepa. Es ist eine sehr tiefgründige Methode, die allem anderen überlegen ist. Im Maha-Ati-System finden wir etwas Vergleichbares in den Praktiken Jenseits des Intellektes (tib.: lo dä) und Erschöpfen der Phänomene (tib.: Tschö sä).

Diese drei Aspekte des Mahamudra bieten einen sehr geschickten Zugang, da sie es selbst einer Person von wenig geistiger Kapazität ermöglichen, stufenweise zu immer tiefgründigeren Ebenen der Praxis geführt zu werden.

Drei Aspekte der Erfahrung

Die Erkenntnis des Mahamudra ist auch als Inhärentes Einssein bekannt, was bedeutet, daß wir lernen, unseren Geist mit seiner ihm zueigenen Natur eins werden zu lassen. Diese kann in drei Aspekten unserer derzeitigen Erfahrung entdeckt werden: In der wahren Natur unseres Geistes, unserer Gedanken und der Erscheinungen.

Wahre Natur des Geistes

Die wahre Natur unseres Geistes bezieht sich auf die wahre Essenz des Geistes, die in jedem einzelnen Moment des Geistes vorhanden ist und deswegen inhärent genannt wird. Diese Essenz ist keine Form, kein Klang, kein Geruch, kein Geschmack und keine Berührung; sie hat keine Farbe, ist weder angenehm noch unangenehm. Sie ist auch nichts Materielles und nichts Festes, sondern nur eine weite, offene, bewußte Klarheit.

Wahre Natur der Erscheinungen

Da der Geist ungehindert ist, kann er alle möglichen Dinge projeszieren – eine große Show zeigen. Seine Manifestationen sind jedoch in ihrer Essenz nicht wirklich. Diese Tendenz des Geistes können wir gut erkennen, wenn wir träumen. Aufgrund der ungehinderten Fähigkeiten des Geistes erleben wir Häuser, Leute, Flüsse, Berge, Felsen, Bäume und so weiter: Im Traum ist alles möglich. Der Berg im Traum ist jedoch kein wirklicher Berg, sondern der Geist selbst.

Das gleiche trifft auf die Welt unseres Wachzustandes zu, in der wir uns jetzt befinden. Sobald ihr geboren wurdet, habt ihr angefangen wie ein Mensch zu denken, zu reden und Dinge zu sehen. Euer Geist kommuniziert mit der Menschenwelt. Diese Welt hat jedoch keine ihr zueigene wirkliche Existenz, die sie von dem mit ihr kommunizierenden Geist unterscheiden würde. Alles ist einfach nur die Manifestation des Geistes und hat deswegen nicht mehr Realität als ein Traum. Die ist die wahre Natur der Erscheinungen.

Wahre Natur der Gedanken

Zwischen dem Geist und seinen äußeren Illusionen liegen die Gedanken. Sie sind die Kommunikation des Geistes, seine Reaktion auf die Eindrücke, die er von seinen eigenen Manifestationen bekommt. Die Gedanken sind in ständiger Bewegung und ihre Anzahl hängt mit der Anzahl der Kontakte zusammen, die der Geist mit der nach außen projeszierten Welt hat. Wie Luftblasen im Wasser entstehen die Gedanken vorübergehend aufgrund von Bedingungen – sie haben keinerlei unabhängige Existenz; wenn die Bedingungen sich ändern, sind sie genauso schnell wieder verschwunden. Wenn wir jedoch die Essenz eines momentanen Gedanken untersuchen, finden wir die ungehinderte offene Klarheit des Geistes. Die Essenz der Gedanken ist die Essenz des Geistes. Dies ist die wahre Natur der Gedanken.

Kontrolle über den Geist

Das Wort Einssein [in: Inhärentes Einssein, siehe oben] deutet darauf hin, daß es für uns darum geht, eins zu werden mit den drei beschriebenen Aspekten – der wahren Natur des Geistes, der Gedanken und der Dinge. Tatsächlich ist das Erkennen der wahren Natur des Geistes das Wichtigste unter den dreien. Wenn dies erst einmal erreicht worden ist, folgen die anderen beiden natürlich und von selbst.

Das bedeutet, daß wir unseren wahren Geist – diese leere ungehinderte Klarheit – unter unsere Kontrolle bringen müssen. Im Moment laufen wir dem Geist nach, wenn er projesziert: Wir sind daran gewöhnt, auf die verwirrten Informationen, die er uns gibt, einzugehen. Was wir lernen müssen, ist, seine wahre Natur zu erkennen; dann wird unser Bewußtsein zu »ursprünglicher Bewußtheit«.

Der Geist sollte weder dumpf und schläfrig, noch aufgeregt und wild sein. Er verweilt in sich und beruht nicht auf äußeren Eindrücken. Verweilt natürlich in der wahren Natur des Geistes und schaut ihn einfach nur entspannt an. Zwingt ihn nicht mit gekünstelten oder aggressiven Mitteln zum still sein. Alle groben und subtilen Gedanken werden sich von selbst auflösen. Wenn sie gegangen sind, wird der Geist sich selbst erkennen aber nicht an sich selbst haften. Dies ist der Beginn des Inhärenten Einssein.

Wenn ihr erst einmal ohne Störungen darin ruhen könnt, wird diese Qualität des Geistes von selbst immer klarer werden, und diese Entwicklung ist grenzenlos: Ihr könnt nicht an einem bestimmten Punkt sagen »Jetzt habe ich das Ende erreicht.« Ihr könnt es auch nicht mit Worten beschreiben oder es durch ein Beispiel vermitteln, da es in dieser Welt überhaupt nichts Vergleichbares gibt. Keine menschliche Zunge ist fähig, diese grenzenlose Entwicklung in Worte zu fassen.

Solange der Geist weiter in seine Manifestationen verstrickt ist, werden von den äußeren Objekten die verschiedensten Gedanken angeregt: Angenehm und unangenehm, Zorn und Anhaftung und Gleichgültigkeit, groß und klein... Die Gedanken sind der Geist, aber nur wie Luftblasen im Wasser.

Ein Anfang, um mit der wahren Natur der Gedanken vertraut zu werden, ist, daß man einen sehr deutlichen Gedanken formt – einen Gedanken, der leicht zu erkennen ist. Zum Beispiel: »Ich hätte gerne viel Geld...« Schaut diesen Gedanken direkt an. Schaut weiter. Schaut auf seine Essenz. Wenn ihr das nicht tut, wird die Anhaftung bewirken, daß der Gedanke sich scheinbar vermehrt und verwandelt. Viele weitere Gedanken erscheinen zu diesem Thema. Wenn ihr jedoch auf die Essenz der Idee, eine Million Mark zu haben, schaut, wird sie sich verwandeln und zu Geist werden. Der Gedanke wird in die Essenz von offener Klarheit transformiert. Die Luftblase löst sich im Wasser auf, wird zu Wasser.

Wie geschieht dies? Der Gedanke und der Geist teilen die gleichen Qualitäten. Ihr habt den Gedanken nicht zerstört, sondern seid in seine Natur vorgedrungen. Ihr habt nicht diese Qualitäten »herbeigeschafft« und sie an dem Gedanken »befestigt«. Ihr habt auch nicht den Gedanken zerstört und ihn durch diese Qualitäten ersetzt. Sondern: Der Gedanke hat natürlicherweise diese Qualitäten und ihr habt euch eingeführt in das Erkennen derselben.

Wenn ihr Gewohnheit darin entwickelt, wird jeder Gedanke zu Dharmakaya, dem Bereich der letztendlichen Wirklichkeit, werden. Wenn man sich hingegen der Gedanken nicht bewußt ist, bleiben sie der Ozean Samsaras, das sich ständig drehende Rad zyklischer Existenz.

Wenn ihr aber die wahre Natur eines einzigen Gedanken erkennt, warum dann nicht auch den ganzen Strom von Gedanken? In der Kagyü-Schule ist dies die Mahamudra-Methode des in einem Augenblick zu Buddha werden – wenn man dieses Glück hat.

Es ist der Schwierigste unter den drei Aspekten; wenn man aber die wahre Natur der Gedanken erkannt hat, wird man leicht erkennen, daß die Manifestationen geistiger Natur sind. Wir lehren zwar, daß die Manifestationen nur Geist sind und daß nichts unabhängig vom Geist existiert. Es ist jedoch zwecklos, jetzt in der Meditation zu versuchen, dies anhand der vorhandenen Erscheinungen erkennen zu wollen, wenn man nicht schon die wahre Natur sowohl des Geistes als auch der Gedanken erkannt hat. Wenn ihr euch der Natur von Geist und Gedanken voll bewußt seid, werdet ihr erkennen, wie der Geist seine Manifestationen projesziert und erfährt. Dies waren sehr kurze Erklärungen. Ihr werdet jedoch merken, daß sie ein nützlicher Schlüssel sind, um das Tor zum Mahamudra zu öffnen.

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Aus: Kagyü Life Nr. 21, 8. Jahrgang (November 1996)

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Most recent update: January 8th, 1997
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